Brüssel. Es war ein langer und holpriger Weg, aber die Eliten der Europäischen Union feiern trotzdem - in Lissabon, am Fuß des Tejo, mit Champagner und Gebäck. Jahrelang hatten die EU-Politiker für einen neuen Vertrag, der eigentlich eine Verfassung werden sollte, gekämpft. Iren, Franzosen und Holländer lehnten den Text zunächst in Volksabstimmungen ab, in vielen Parlamenten gab es Widerstände, zuletzt verweigerte Tschechiens störrischer Staatschef Vaclav Klaus wochenlang seine Unterschrift.

Der Kampf ist vorbei. Europa funktioniert ab heute nach neuen Regeln, der sogenannte Vertrag von Lissabon tritt in Kraft. Der Text ist kühl, technisch, knapp - und nur für Spezialisten verständlich. Für den Alltag der Europäer ist der neue Vertrag ohne Folgen. Im Brüsseler Maschinenraum wird sich dagegen eine ganze Menge ändern: Es treten mit dem EU-Präsidenten und neuen europäischen Außenminister zwei neue Mitspieler auf, die Machtbalance gerät ins Wanken. Und: Einzelne Länder sollen Entscheidungen nicht mehr so leicht blockieren können wie bisher, das Erpressungspotenzial sinkt.

Hinzu kommt, dass die Justiz- und Innenpolitik eines Landes künftig zunehmend in Brüssel gemacht wird. Insgesamt soll der Reformvertrag die Union mit 27 Mitgliedern demokratischer und handlungsfähiger machen.

Dies sind die wichtigsten Neuerungen des EU-Reformvertrags:

Mehrheitsentscheidungen

Die wichtigste Veränderung im neuen Vertrag. EU-Beschlüsse können schneller und leichter getroffen werden, weil in vielen Fällen der Zwang zur Einstimmigkeit entfällt. In 137 von 181 Bereichen ist jetzt eine qualifizierte Mehrheit ausreichend. Dies gilt jetzt vor allem auch für Entscheidungen im Justizsektor. In 70 Bereichen, wie Steuern, soziale Sicherheit, EU-Haushalt und Außenpolitik, kann ein Land durch sein Veto weiterhin Beschlüsse blockieren.

Gerechtere Entscheidungen

Für eine qualifizierte Mehrheit ist die Zustimmung von 55 der Staaten mit 65 Prozent der Bevölkerung nötig ("doppelte Mehrheit"). Wichtig dabei: Bei den Stimmrechten eines Landes wird künftig die Einwohnerzahl stärker berücksichtigt. Beispiel: Bisher hatte Deutschland 8,4 Prozent der EU-Stimmen und Polen 7,8 Prozent, obwohl Deutschland fast doppelt so groß ist. Nach dem neuen Vertrag erhält Deutschland 17,2 Prozent und Polen acht Prozent der Stimmrechte.

Mehr Macht für Parlamente

Das Mitentscheidungsrecht des EU-Parlaments wird ausgeweitet, Abgeordnete können künftig auch bei vielen Themen mitbestimmen, die bisher nur von den Mitgliedstaaten entschieden wurden, beispielsweise Agrar- und Justizfragen. Gleichzeitig werden auch die nationalen Parlamente gestärkt: Die EU-Kommission muss ihre Gesetzespläne überprüfen, wenn ein Drittel der Parlamente die Entscheidungsrechte des eigenen Landes beeinträchtigt sieht.

Bürgerbegehren

Wenn eine Million Menschen aus "einer erheblichen Zahl von Mitgliedstaaten" per Unterschrift ein Gesetz verlangen, muss die Kommission tätig werden und einen Vorschlag machen. Das sind vage Regeln. Die Kommission hatte Mitte November vorgeschlagen, dass aus mindestens einem Drittel der EU-Länder Unterschriften von jeweils 0,2 Prozent der nationalen Bevölkerung vorliegen sollten. Offen ist auch, wie verbindlich ein Bürgerbegehren wäre.

Repräsentanten

Der Start des neuen Reformvertrags war schwach, die EU-Eliten schienen Angst vor ihrer eigenen Courage zu haben: Die sinnvolle Vorschrift des neuen "Lissabon-Vertrags", die Zahl der Kommissare ab 2014 auf 18 zu verkleinern, wurde vor ein paar Monaten auf Druck Dublins kurzerhand wieder kassiert. Mit Herman Van Rompuy (EU-Präsident) und Cathy Ashton (Außenministerin) wurden zwei neue EU-Spitzen ohne Kraft und Glanz ausgewählt - sie geben Europa kein Gesicht, sie stellen kein neues europäisches Selbstbewusstsein dar. Merkel & Co. wollten es so.

Für die Erweiterung der EU hat der neue Vertrag weitreichende Folgen: Die Beitritte können weitergehen, ohne Vertrag wäre das nicht möglich gewesen. Die Staaten des Westbalkans, darunter Kosovo und Bosnien-Herzegowina, werden in den kommenden Jahren massiv Druck machen. Immerhin hat ihnen die EU seit 2003 den Beitritt versprochen. Auch Georgien, Moldawien und die Ukraine werden nicht lockerlassen.

Abzuwarten bleibt, ob die neuen Regeln auch wirklich zu besseren Entscheidungen führen und ob das EU-Parlament durch mehr Mitsprache an Akzeptanz gewinnt. Vieles wird davon abhängen, ob die Politik nach jahrelangem verzehrenden Strampeln für den Vertrag Europas wahre Probleme wieder ins Visier nimmt: Jobs, mehr Wettbewerb im Dienstleistungsbereich und die Grenzen der EU stehen ganz oben auf der Agenda.