Ein neues Kapitel beginnt im schwelenden Machtkampf zwischen den mächtigen Generalen und Ministerpräsident Erdogan.

Hamburg/Istanbul. Der "Tiefe Staat" ist ein spezifisches, höchst beunruhigendes Phänomen der türkischen Politik. Mit diesem Ausdruck, auf Türkisch derin devlet, wird ein mysteriöses Netzwerk aus Militärs, Sicherheitskräften, Justiz, Verwaltung und sogar organisiertem Verbrechen bezeichnet. Dieser Schattenstaat im Staat, der keinerlei demokratischen Kontrollen unterworfen ist, dient der vehementen Verteidigung des flammenden türkischen Nationalismus beziehungsweise der Prinzipien des Kemalismus, jener revolutionären Doktrin des Staatsgründers Mustafa Kemal "Atatürk".

Als Kern des "Tiefen Staates" gelten vor allem nationalistische Offiziere der mächtigen türkischen Armee. Diesem System werden auch zahlreiche Gewalttaten zugerechnet - wie die Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink 2007, dem Beleidigung des Türkentums angelastet wurde.

Anfang 2008 wurde der Geheimbund "Ergenekon" enttarnt, der für dieses Jahr einen Militärputsch sowie Mordanschläge auf kritische Politiker und Autoren geplant haben soll - darunter Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk. Das Wort Ergenekon bezieht sich auf ein mythisches Tal, in dem die Urtürken Kraft für den Kampf um ein Großtürkisches Imperium sammeln konnten.

Vor einem Jahr begann der Mammut-Prozess gegen 86 Angeklagte, darunter Journalisten, Politiker, Beamte und zwei hochrangige Generale. Und nun bringen neue Enthüllungen das Militär in akute Erklärungsnot. Die Presse berichtete, ein Offizier im Generalstab habe der Staatsanwaltschaft ein äußerst brisantes Papier zugespielt. Es sei ein Plan zur Destabilisierung der islamisch-konservativen Partei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Der Offizier berichtete in einem beiliegenden Schreiben, die Originalpläne seien inzwischen auf den Computern im Hauptquartier der Armee gelöscht worden.

Über diesen Plan war bereits im Juni berichtet worden; ein Oberst namens Dursun Cicek war deswegen verhaftet worden. Der konservative Generalstabschef Ilker Basbug hatte verächtlich von einem "Stück Papier" gesprochen. Doch offenbar liegen jetzt Details vor. Danach sollte Erdogans Regierungspartei AKP durch eingeschleuste Agenten und provozierte Spannungen zersetzt werden.

Ferner sollte die Bewegung des Islamgelehrten Fethullah Gülen diskreditiert werden - unter anderem dadurch, dass man Waffen in von der Gülen-Bewegung genutzte Gebäude schmuggeln wollte. Die Waffenfunde hätten dann als Beweis dafür gedient, dass die Bewegung in terroristische Aktivitäten verwickelt ist. Der 1941 geborene Prediger Gülen stellt den Islam über die Demokratie, lehnt Darwins Abstammungslehre ab und hatte seine Anhänger 1998 aufgefordert, schleichend die Kontrolle über den türkischen Staat zu übernehmen. Der neue Skandal steht für einen Machtkampf zwischen dem türkischen Militär und der Regierung Erdogan. Die Generale verdächtigen Erdogan, die Türkei in einen Gottesstaat verwandeln zu wollen; seine AKP gilt ihnen als islamische Kampforganisation. Die Generale wiederum betrachten das rigorose Vorgehen der Regierung im Fall Ergenekon als Fehdehandschuh. Seit 1960 hat das Militär bereits viermal gegen gewählte Regierungen geputscht.

Der Regierungschef, der gestern zu einem dreitägigen Staatsbesuch in Teheran eintraf, tut wenig, um das Misstrauen der Generale - und auch mancher westlicher Staaten - zu entkräften. Im Londoner "Guardian" bezeichnete er den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, der die "Tilgung Israels von der Landkarte" fordert, als "Freund" der Türkei. Erdogan verteidigte das umstrittene iranische Atomprogramm und beschuldigte Deutschland und Frankreich, "Vorurteile" gegen die Türkei zu hegen.