Urururgroßmutter Melvinia gehörte einem Farmer in South Carolina. Unter den Vorfahren der Präsidentengattin befinden sich auch Weiße.

Washington. Als das sechsjährige "Negermädchen Melvinia" im Jahr 1850 im Testament eines ältlichen Sklavenhalters in South Carolina verzeichnet wurde, neben Spinnrädern, Tischwäsche und Vieh und 20 weiteren Sklaven, war sie 475 Dollar wert und dazu verdammt, spurlos zu leben und zu sterben. Nach dem Tod des Masters erbte der entfernte Verwandte David Patterson in Georgia das Mädchen. Mit drei anderen Sklaven hatte sich Melvinia um des Farmers Weizen, Mais, Süßkartoffeln, Baumwolle sowie drei Pferde, fünf Kühe, 17 Schweine und 20 Schafe zu kümmern. Und um ihr erstes Baby, gezeugt 1859 von einem Weißen. Jetzt hat die Sklavin Melvinia in der "New York Times" die ihr zugedachte Spurenlosigkeit gesprengt. Als aus dem Grab triumphierende Ahnin der First Lady: Michelle Obamas Urururgroßmutter.

Es ist nicht überliefert, wie bewegt oder ungerührt Michelle LaVaughn Obama, 1964 geborene Robinson, die Freilegung ihrer Wurzeln aufnahm. Die "New York Times" hatte vor Monaten die Genealogin Megan Smolenyak mit den Nachforschungen beauftragt und ließ es sich nicht nehmen, den verzweigten Stammbaum und die Migrationen der Ahnen auf einer ganzen Seite zu verzeichnen. Im vergangenen Jahr hatten die Robinsons erfahren, dass ein Ururgroßvater aus South Carolina wohl für immer ein Rätsel bleiben würde. Dieser Mann, Dolphus T. Shields (1859 oder 1861 bis 1950), Sohn der Melvinia, wie damals üblich Mulatte genannt, geisterte bisher durch die Familiengeschichte als bleiches Gerücht: Es gebe einen Weißen unter den Stammvätern, hatte es geheißen. Ob David Patterson, damals Ende vierzig, seine Sklavin geschwängert hat oder einer seiner vier Söhne zwischen 19 und 24, ist nicht zu klären. Als sicher gilt, dass Melvinia (circa 1844 bis 1938) noch keine 15 Jahre alt war, als sie das erste von vier Kindern gebar.

"Michelle Obama repräsentiert, woher wir kommen und wer wir sind", kommentiert der Historiker Edward Ball, der Memoiren mit dem Titel "Sklaven in der Familie" verfasste: "Wir sind keine getrennten Stämme von Latinos, Weißen und Schwarzen in Amerika, wir haben uns alle miteinander vermischt, und das seit Generationen." Zu den berühmtesten Sklavenhaltern, die schwarze Mädchen in ihren Haushalten bei der Feldarbeit wie im Bett benutzten, zählt Thomas Jefferson. Die Familie seiner Sklavin Sally Hemmings kämpfte fast 200 Jahre, bis DNS-Analysen alle Zweifel ausräumten, um die Anerkennung, dass ihre Kinder zu der noblen Familie gehören, gezeugt von Jefferson selbst oder einem Sohn. Es mag sein, dass die Empfindlichkeit, mit der viele Afroamerikaner jede Farbnuance ihrer Haut in sozialen Statusgewinn oder -verlust übersetzen, aus den Zeiten der Sklaverei stammen. Je heller der Farbton, desto schöner die Frauen, desto angesehener die Männer. Daran hat die Black-Power-Emanzipation offenbar wenig geändert. Nicht wenige Schwarze in den USA sind überzeugt, dass Barack Obama niemals Präsident hätte werden können, wäre er ganz schwarz. Der Sohn einer Weißen aus Kansas und eines Kenianers, also ein (halbschwarzer) Afroamerikaner im strengen Wortsinn, trägt weder die Narben der Versklavung noch jene des Gettos. Barack "Barry" Hussein Obama, erzogen in Eliteschulen und den besten Universitäten, hat sich so weit von den Fesseln des Schwarzseins in Amerika befreit wie nur denkbar.

Als Melvinia 1938 starb, verzeichnete ihr Totenschein, von einem Verwandten unterschrieben, unter dem Rubrum der Eltern "Unbekannt"; vermutlich hat sie selbst nie gewusst, wer ihre Eltern waren. Sklaven wurden verkauft wie Vieh, Eheleute getrennt, Kinder den Eltern geraubt; eine Familie zusammenzuhalten verlangte unglaubliches Glück und Willenskraft. Es gibt nicht wenige schwarze Soziologen, die das Zerfallen der afroamerikanischen Familien - vor allem die Flucht der Väter aus Verantwortung und Ehen in Drogensucht, Arbeitslosigkeit, gar Kriminalität - auf die Zerschlagung der Familien während der Sklaverei zurückführen. Nicht als Ausrede, sondern als Erklärung. Die Idee, dass die Leugnung oder Löschung der Ahnen eine Rassendiskriminierung über den Tod hinaus bedeutet, stieß Alex Haleys Fernsehserie "Roots" von 1977 an. Der schwarze Mittelstand entdeckte seine Wurzeln, auch wenn sie alle in die Sklaverei reichten, mit Stolz. Und sie entdeckten, dass sie noch besser dran waren als die Ureinwohner Amerikas. In der Familie der Robinsons aus Chicago soll es sogar indianische Vorfahren geben. Über sie, die in Freiheit Besiegten, gibt es freilich noch weniger Zeugnisse in Kirchenregistern oder Erbscheinen als über die Sklaven. Nicht zuletzt der Harvard-Professor Henry Louis Gates hat dafür gesorgt, dass Ahnenforschung schick wurde. Gates, der das Center for African-American Studies leitet, veröffentlichte 2007 Studien von 20 schwarzen Prominenten aus Sport, Unterhaltung und Wissenschaft. Oprah Winfrey und Jackie Joyner-Kersee, die Astronautin Mae Jemison und der Kinder-Neurochirurg Ben Carson dienten Gates zum Beweis, dass Besitz und Klassenunterschiede die Schicksale schwarzer Gewinner und Verlierer in den USA prägen. Fünfzehn der 20 Erfolgreichen kamen aus Familien ehemaliger Sklaven, die es erreicht hatten, bis 1920 Haus und Grund zu erwerben - eine Zeit, in der kaum ein Viertel der Schwarzen im eigenen Haus lebte. Der Southern Homestead Act hatte den Freigelassenen "40 Ar Land und ein Maultier" versprochen. Aber es waren Schwarze mit von Unternehmergeist und enormer Disziplin, die vorankamen. Gates berichtet vom Urgroßvater Oprah Winfreys, der zehn Jahre nach Ende des Bürgerkriegs 4000 Pfund selbst gepflückter Baumwolle gegen 80 Ar erstklassigen Boden in Mississippi eintauschte.

Michelle Obamas Geschichte gehört in eine Neuauflage von Gates' Buch. Auch wenn sie seine klassenkämpferische These nicht eben stützt. Ihr Vater bediente Pumpen bei den Stadtwerken von Chicago; sie studierte in Princeton und wurde eine brillante Juristin, die einem ihrer schutzbefohlenen Hospitanten namens Barack Obama eine Weile lang bedeutete, er möge nicht seine Zeit verschwenden, indem er sich in Vorgesetzte verliebe. Henry Louis Gates ist, wie es die Ironie der Geschichte will, jener schwarze Harvard-Professor, der im Sommer eines Tages seinen Hausschlüssel vergaß, beim "Einbruch" in sein eigenes Haus von einem weißen Polizisten gestellt und in Handschellen abgeführt wurde, als er wütende Widerworte gab. Präsident Obama, ein enger Freund Gates', lud ihn und seinen Peiniger zum "Biergipfel" in den Garten des Weißen Hauses. Man verständigte sich unter Gentlemen darauf, sich nicht verständigen zu können. Beide Seite hatten überreagiert.

Amerika hat wenige Kronzeugen von Gates' Statur beim Verhandeln von Rassenfragen. Er kann es sich leisten, den Nationalheiligen Abraham Lincoln einen "geläuterten Rassisten" ("recovering racist") zu nennen, der von "Niggern" sprach, "Darky"-Witze zum Besten gab und der Befreiung der Sklaven so lange widerstand, wie nur möglich. Der hellhäutige Gates kann seine Familie ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Ein Ire schwängerte Jane Gates, seine Uururgroßmutter, die 1819 als Sklavin geboren wurde. Er ist Mitautor der Encyclopedia Africana: "African American National Biography", die 2004 mit 4100 Einträgen (Oxford University Press; 795 Dollar) erschien und Tausende weitere Personen in ihre Online-Fassung aufnehmen will. Die Datenbank von Gates' Du Bois Institute umfasste im Januar 2008 über 15 000 Namen. Wer erfüllt die Definition eines Schwarzen? Die Frage ist weniger töricht, als man meinen könnte. "Wer sich selbst für schwarz hält", lautet die Auskunft der Autoren. Von Colin Powell bis LL Cool J, von Catahy Williams, eine entflohene Sklavin, die nach dem Bürgerkrieg als Mann verkleidet in die U.S. Army aufgenommen wurde, bis zu John Carruthers Staly, einst ein Sklave in North Carolina, der es selbst zu 163 Sklaven brachte.

Platz für Michelle LaVaughn Robinson Obama und ihre Ahnengalerie ist in der Enzyklopädie sicher. Unter ihren Vorfahren finden sich Tagelöhner, Kirchengründer, Gepäckträger, Erfinder, Fernfahrer, Anstreicher, Zimmerleute. Es waren anständige Leute, viele erreichten ein hohes Alter. Dolphus T. Shields, Melvinias Sohn, war ein gottesfürchtiger Mann. In seinem Haus war Rauchen, Fluchen, Hosen für Frauen, Kaugummikauen, Lippenstift und der Blues verboten. Shields, der immer an einen Fortschritt in den Rassenbeziehungen geglaubt hatte, starb im Alter von 91 Jahren. Am 9. Juni 1950, als Shields Nachruf in der schwarzen Zeitung "The Birmingham World" erschien, meldete eine Schlagzeile: "Oberstes Bundesgericht verbietet Rassentrennung in Restaurants und Hochschulen."

Es ging um Zugabteile und um die Universitäten von Texas und Oklahoma. Es sollten noch 58 Jahre und knapp fünf Monate vergehen, bis Michelle, die Urururenkelin der Sklavin Melvinia, First Lady wurde.