Trotz jahrelanger Verhandlungen ist die Türkei immer noch weit von einem Beitritt zur EU entfernt. Es gebe erhebliche Defizite beim Schutz der Presse- und Religionsfreiheit, heißt es im Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission über den EU-Beitrittskandidaten Türkei.

Ankara/Brüssel. "Die Einhaltung grundlegender Bürgerrechte in der Region macht uns immer noch Sorgen", sagte EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn. "Die EU muss die Türkei-Gespräche aussetzen, um nicht die eigene Glaubwürdigkeit zu verlieren", forderte der CSU-Abgeordnete Markus Ferber.

Besorgt zeigte sich die EU-Kommission unter anderem über den Umgang der türkischen Behörden mit dem Medienkonzern Dogan. Der regierungskritischen Mediengruppe droht wegen angeblicher Steuerhinterziehung eine Geldstrafe von 2,2 Milliarden Euro. Dies "unterminiert die wirtschaftliche Lebensfähigkeit" und schade der Pressefreiheit, heißt es in dem EU-Bericht. Der Vizechef der Liberalen im EU-Parlament, Alexander Graf Lambsdorff, kritisierte, dass "die astronomischen Steuerstrafen" für ein kritisches Medienunternehmen "nicht akzeptabel" seien. Laut EU hat es bei der Meinungsfreiheit aber auch Fortschritte gegeben. Die Zahl der Personen, die im vergangenen Jahr "wegen Beleidigung der türkischen Nation" auf Basis des Strafrechtsartikels 301 verfolgt wurden, sei überschaubar. Scharf kritisierte die Kommission, dass die Rechte der Kurden sowie religiöser Minderheiten weiterhin eingeschränkt werden. Außerdem seien "Ehrenmorde", erzwungene Ehen und häusliche Gewalt gegen Frauen in einigen Regionen des Landes noch weit verbreitet. Brüssel beklagt die eingeschränkten Rechte für Gewerkschaften und Mängel bei der Versammlungsfreiheit.

Die Normalisierung der Beziehungen zu Armenien sei indes ein "historischer Schritt". Die Türkei spiele in Nahost oder dem Südkaukasus, bei der Energiesicherheit und dem Dialog der Zivilisationen eine Schlüsselrolle, betonte Rehn in dem Bericht, den der türkische Verhandlungsführer und Europaminister Egemen Bagis den bisher "objektivsten" nannte - vielleicht auch deshalb, weil er mit Bezug auf die türkische Bedeutung im Nahen Osten und Kaukasus neue Realitäten in den Blick nimmt.

Denn als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vor Kurzem als Parteichef der regierenden AKP wiedergewählt wurde, hielt er eine Rede, die von regierungsfreundlichen Medien als historisch und auf die Außenpolitik konzentriert gepriesen wurde. Der Schwerpunkt lag auf dem Nahen Osten und was die Türkei da alles erreichen könne. "Unsere Zeit hat gerade erst begonnen", sagte Erdogan. Er meinte eine neue Ära türkischen Prestiges und Einflusses in der Region, die einst das Osmanische Reich war. Architekt dieser neuen Ausrichtung ist Außenminister Ahmet Davutoglu. Ausgleich mit den Nachbarn, lautet das Motto. Immer noch hat das Militär großen Einfluss und rechtfertigt dies mit Gefahren, die der Türkei angeblich von außen drohen. Beendet man die Konflikte, so meint Davutoglu, entfällt jeder Grund für eine innenpolitische Sonderstellung des Militärs. Der Raum wird frei für demokratische Reformen. Das ist einer von zwei Gründen, warum Davutoglu in dieser Strategie den Königsweg in die EU erblickt. Der andere ist, dass das als islamfeindlich empfundene Europa die Sprache der Macht verstehe und eine als regionale Hegemonialmacht einflussreichere und demokratischere Türkei nicht mehr ablehnen könne.

Besonders die seit einem Jahr immer schlechteren Beziehungen zu Israel lassen Zweifel an der West-Orientierung der Türkei laut werden. Einst war Israel der strategische Partner Ankaras in der Region, nun wird der Begriff lieber für Syrien verwandt. Die Türkei investiert viel Geld und Geduld, um Kaukasusländer wie Georgien an sich zu binden. Man sucht eine engere Verflechtung mit den turksprachigen Ländern Zentralasiens. Diese Politik orientiert sich erstmals seit den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder am osmanischen Erbe und versteht dieses Erbe als Pflicht und Berufung, als Ordnungsmacht und zivilisatorische Kraft sowohl im Sinne des Islam wie der Demokratie weit über die Grenzen der Türkei hinaus zu wirken.