Die Führung in Tiflis hat demnach den ersten Schuss abgegeben. Der Kreml hat unverhältnismäßig reagiert.

Brüssel. In jedem Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer, sagt ein Sprichwort. Auch im Kaukasuskonflikt, der in der Nacht zum 8.August 2008 begann, war dies vom ersten Moment an klar. Um die wahren Hintergründe für den Krieg zwischen Georgien und Russland in der abtrünnigen georgischen Republik Südossetien trotzdem zu finden, hatte der Europäische Rat im vergangenen Jahr eine Untersuchungskommission unter Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini beauftragt.

Gestern stellte die Kommission in Brüssel ihren Abschlussbericht vor. Die wichtigste Erkenntnis: Georgiens Präsident Michail Saakaschwili gab den Befehl zum ersten Schuss. Nach dieser Lesart, die besonders in Russland Anklang findet, hat Georgien den fünftägigen Krieg entfacht, der 380 Todesopfer forderte.

Wahrheit aber lässt sich interpretieren. Während Russlands EU-Botschafter Wladimir Tschichow den EU-Bericht als eine Bestätigung für die russische Position verstand, wies seine georgische Amtskollegin den Vorwurf zurück, Tiflis habe den Konflikt begonnen. "Tagliavini mag der Ansicht sein, dass der Moment, in dem wir zu handeln begannen, nicht der richtige war", sagte Salome Samadashvili. Aber für Georgiens Bürger in Südossetien sei das militärische Einschreiten sogar schon zu spät gewesen.

Die EU-Untersuchungskommission sieht dies anders. Der "Einsatz von Gewalt durch Georgien in Südossetien, beginnend mit dem Beschuss Zchinwalis in der Nacht vom 7. auf 8. August" sei unter den Maßgaben des internationalen Rechts nicht gerechtfertigt gewesen. Auch hätten die Ergebnisse den Vorwurf Saakaschwilis, Moskau habe eine Invasion in Georgien lange geplant, nicht untermauert. "Es gibt allerdings eine Reihe von Berichten und Veröffentlichungen auch von russischer Seite über die Bereitstellung von Training und militärischer Ausrüstung durch die russische Seite für die südossetischen und abchasischen Kräfte vor dem Konflikt vom August 2008", heißt es.

Die Reaktion der Südossetier ab dem 8. August sei im völkerrechtlichen Sinne als Selbstverteidigung zu bewerten und damit legal gewesen. Doch zugleich verurteilt Tagliavini die massive Reaktion Moskaus als auch südossetischer Kräfte, "vor allem Handlungen gegen Menschen georgischer Herkunft innerhalb und außerhalb Südossetiens". Im Völkerrechtssinne begingen die südossetischen Truppen damit ethnische Säuberungen an ihren georgischen Nachbarn.

Die Kommission fand zu einer weiteren schwerwiegenden Folgerung: dass der russische Militäreinsatz "Grenzen überschritten" habe und keine reine Verteidigung dargestellt habe. Er sei daher "außerhalb von internationalem Recht" gewesen. Damit bestätigt der Bericht den früh von internationaler Seite gegen Moskau erhobenen Vorwurf, dass seine Armee "unverhältnismäßig" reagiert habe. Belegt wird auch, dass russische und südossetische Streitkräfte noch nach dem Waffenstillstand Verbrechen in der Pufferzone begingen.

Die unmittelbaren Folgen des Berichts waren in Tiflis sofort zu spüren. Nach Informationen der "Welt" war die dortige Lage angespannt. "Die Regierung ist sehr nervös, sie war nicht ausreichend vorbereitet", so eine europäische Diplomatin. Allerdings habe die verzögerte Veröffentlichung des Berichts sehr wahrscheinlich dazu beigetragen, dass die Stimmung gegen die Regierung nicht eskaliert. Für Saakaschwilis russische Gegner steht hingegen fest, dass der Präsident spätestens jetzt zurücktreten muss.