Dass in Russland nicht alles zum Besten bestellt ist, war allgemein bekannt. Dass der Präsident selbst die Gesellschaft in so scharfen Worten kritisiert, hat es aber seit den Zeiten von Michail Gorbatschows Perestroika nicht mehr gegeben.

Moskau. Dmitri Medwedew schrieb am Freitag in einem Beitrag für mehrere Moskauer Zeitungen, Russland stehe vor vielen großen Problemen wie "einer ineffizienten Wirtschaft, einer halb sowjetischen Gesellschaftssphäre, einer schwachen Demokratie, negativen demografischen Trends und einem instabilen Kaukasus". Das Land brauche ein politisches System, das "offen, flexibel und komplex" sei. Dazu gehöre auch ein regelmäßiger Machtwechsel der Parteien als Ergebnis von Wahlen.

Zuvor hat er schon in der Internetzeitung "Gazeta.ru" Russland ein "rückständiges und korruptes Land" mit einer "primitiven" Wirtschaft, einer "schwachen Demokratie" und einer Bevölkerung, der es an Initiative fehle, genannt. Russland sei es in den vergangenen 20 Jahren nicht gelungen, sich von der "erniedrigenden Rohstoffabhängigkeit" zu befreien, und seine Wirtschaft ignoriere wie zu Sowjetzeiten die Bedürfnisse des Menschen. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise habe das ganze Dilemma des Landes offen zutage treten lassen.

Medwedew rief seine Landsleute auf, gegen Korruption, Passivität und Trunkenheit anzugehen und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, statt den Staat für die eigenen Probleme verantwortlich zu machen. Eine der Ursachen der Korruption sei zwar die langjährige exzessive staatliche Präsenz in der Wirtschaft. Er kritisierte aber zugleich, dass auch viele Unternehmer mehr auf Schmiergeldzahlungen setzten als nach "talentierten Erfindern" zu suchen, "einzigartige Technologien" einzuführen sowie innovative Produkte zu entwickeln und auf den Markt zu bringen.

In seinem beispiellosen Appell forderte Medwedew die Bevölkerung auch auf, ihm Vorschläge für seine Rede zur Lage der Nation zu liefern. Der Präsident will die Rede nach Angaben einer Sprecherin Ende Oktober oder Anfang November halten.

Einen ersten praktischen Schritt hat er gleich selbst vorgelegt. Im Kampf gegen den grassierenden Alkoholismus ordnete er Verkaufsbeschränkungen für Bier und ähnliche Getränke an. Sie dürfen künftig nicht mehr in Behältern verkauft werden, die ein Drittel Liter überschreiten. Nicht betroffen von der Neuregelung sind aber zum Beispiel Wein und harte alkoholische Getränke wie Wodka. Eine im Juni in der Medizin-Zeitschrift "The Lancet" veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass seit dem Ende der Sowjetunion 1991 die Hälfte aller Todesfälle bei 15- bis 54-Jährigen auf Alkohol zurückzuführen sind.