Der Mörder konnte flüchten. Die junge lebensfrohe Party-Szene der israelischen Stadt steht unter Schock.

Tel Aviv. Er habe zuerst gedacht, es handele sich um einen Witz, als der mit einer Skimaske vermummte Mann am späten Sonnabendabend in den Treff für junge Homosexuelle stürmte, erzählt ein Augenzeuge dem israelischen Radio. Doch dann habe der Mann eine Pistole gezogen und wie wild um sich geschossen. "Wir sind unter Tische und Stühle gesprungen, um uns zu schützen. Überall war Blut, es sah aus wie in einem Schlachthaus", berichtet der Junge stockend.

Der Täter war bereits geflohen, als die Krankenwagen eintrafen. Für Nir Katz (26) und Liz Trubischi (17) aber kam jede Hilfe zu spät, 15 weitere junge Menschen wurden bei dem Anschlag verletzt. Ein schlimmeres Blutbad wurde nur verhindert, weil der Sicherheitsmann einer nahe gelegenen Schwulenbar dem flüchtigen Täter geistesgegenwärtig den Eintritt verwehrte.

Am Tag danach steht die sonst so lebensfrohe Tel Aviver Szene unter Schock. Wie konnte so etwas ausgerechnet in ihrer Stadt geschehen? Im weltoffenen, liberalen Tel Aviv, wo der Anblick homosexueller Paare alltäglich ist und die jährliche Gay Parade längst zu einer Art Volksfest für alle Bewohner der Stadt geworden ist? Habe man sich vielleicht ein wenig zu wohl- und zu sicher gefühlt, fragte der einzige bekennende homosexuelle Knesset-Abgeordnete, Nitzan Horowitz, noch am Abend des Anschlags? Und warum war der Täter so gut informiert? Wie wusste er von der Hilfsgruppe für junge Homosexuelle, die sich einmal wöchentlich in dem kleinen Kellerapartment traf? "Seit heute sind wir auch in Tel Aviv nicht mehr sicher", stellte der beliebte Liedermacher und bekennende Homosexuelle Ivri Lieder resigniert fest.

Das sieht Bürgermeister Ron Chuldai entschieden anders. Tel Aviv sei eine liberale Stadt und werde das auch bleiben, verkündete er. "Die schwule Gemeinschaft wird sich in dieser Stadt auch weiterhin willkommen fühlen." Quer durch das politische Spektrum verurteilten Politiker den Mord. Präsident Schimon Peres sagte, ein "aufgeklärtes Volk" können eine solche Tat nicht akzeptieren. Auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu forderte die Polizei auf, alles zu tun, um den noch immer flüchtigen Täter zu fassen und vor Gericht zu bringen. Besonders überraschend aber war, welche deutlichen Worte die sephardisch-orthodoxe Schas-Partei fand. Man verurteile die Tat scharf, hieß es. Mord sei immer gegen das Gesetz der Thora und deshalb verwerflich.

Doch für viele Homosexuelle kommt dieses Bekenntnis zu spät: "Seit Jahren hetzen sie gegen uns, und wenn dann jemand ihren Hass in die Tat umsetzt, sind sie auf einmal dagegen", sagt Amir Nider von der Schwulenorganisation Aguda. Er fühle sich an den Mord an Ministerpräsident Jitzchak Rabin 1995 erinnert. Auch damals hätten Hass und Hetze schließlich zur Katastrophe geführt. Nissim Seew, ein Abgeordneter der Schas-Partei, hält diesen Vorwurf für absurd. Der Zeitung "Yedioth Ahronoth" sagte er, die Polizei ermittle noch in alle Richtungen. Es könne auch ein Wahnsinniger den Mord verübt haben oder ein Araber, der einfach viele junge Juden töten wollte. Ein kaltblütiger Mord habe jedenfalls nichts mit der Tatsache zu tun, dass ein "gewisser Lebensstil" für ihn und seine Partei "inakzeptabel" sei. Nissim Seew hatte im Januar 2008 in der Knesset gesagt, die Homosexuellen würden "die israelische Gesellschaft verseuchen". Schwule seien eine "Epidemie", und das Gesundheitsministerium sollte mit ihnen "genauso umgehen wie mit der Vogelgrippe".

Seew steht mit seinem Hass auf Homosexuelle unter den Religiösen nicht allein. Kurz darauf - nach einem glimpflich verlaufenen Erdbeben in Jerusalem - sagte sein Parteifreund Schlomo Benisri, man könne sich in Zukunft viele Erdbeben ersparen, wenn die Knesset eine Möglichkeit fände, Geschlechtsverkehr unter Männern zu verbieten.

Angesichts dieses Hasses zweifeln viele israelische Homosexuelle, dass der Schock des jüngsten Anschlags etwas an dieser Haltung ändern wird.