“Ich werde entführt!“ Das waren die letzten verzweifelten Worte, die die Einwohner von Grosny von Natalja Estemirowa (50), der bekanntesten Menschenrechtlerin Tschetscheniens und Trägerin des alternativen Nobelpreises, am Mittwochmorgen hörten.

Moskau. Am Abend war es entsetzliche Gewissheit: Sie war ermordet worden. Ihre Leiche, entstellt durch mehrere Schusswunden im Kopf und in der Brust, wurde an einem Straßenrand in der Nachbarrepublik Inguschetien gefunden. Russlands Präsident Dimitri Medwedew kondolierte der Familie und wies den ranghöchsten russischen Ermittler an, "die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen". Tschetschenen-Präsident Ramsan Kadyrow gab sich entsetzt und versprach Aufklärung. Er steht allerdings selbst im Verdacht, hinter dem Mord zu stecken. Kadyrow ist für Korruption und Brutalität berüchtigt.

Etwa 200 Menschen, so berichtete die unabhängige Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Heda Saratowa, nahmen im Zentrum von Grosny Abschied von der in der Bevölkerung sehr populären, mutigen Frau. Auf einem Transparent stand die bange Frage: Wer ist der Nächste?

Natalja Estemirowa, die Leiterin der tschetschenischen Abteilung der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, war am Mittwochmorgen auf dem Weg zur Arbeit von mehreren Männern in einen weißen Wagen vom Typ Lada gezerrt und verschleppt worden. Augenzeugen beobachteten den Vorgang, griffen aber aus Angst um das eigene Leben nicht ein. Denn jede Einmischung bedeutete Lebensgefahr. Es bleibt rätselhaft, wie es dem Fahrzeug mit der Geisel an Bord gelungen ist, die administrative Grenze zwischen Tschetschenien und Inguschetien zu überqueren. Hier stehen nach dem Anschlag auf den inguschetischen Präsidenten Junus-Bek Jewkurow verstärkte Posten, die den Auftrag haben, alles streng zu kontrollieren.

Natalja Estemirowa war den Behörden in jüngster Zeit durch ihre federführende Mitarbeit am Human-Rights-Watch-Bericht aufgefallen. Darin wurden die russischen und tschetschenischen Behörden aufgefordert, dem Niederbrennen von Häusern und anderen kollektiven Strafmaßnahmen gegen Familien vermeintlicher tschetschenischer Aufständischer ein sofortiges Ende setzen. Es handele sich dabei um ein "kriminelles Vorgehen". Zudem sollen die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen in der Region in angemessener Weise zur Rechenschaft gezogen werden.

Der Tod Estemirowas löste heftige internationale Kritik aus wie bei der Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja vor drei Jahren. Die Generalsekretärin von Amnesty International, Irene Khan, sagte, Menschenrechtsverletzungen in Russland und besonders im Nord-Kaukasus dürften nicht länger ignoriert werden. "Und diejenigen, die für Menschenrechte eintreten, müssen geschützt werden." Der Sprecher des amerikanischen Sicherheitsrats, Mike Hammer, sagte, der Mord schocke besonders, weil US-Präsident Barack Obama erst vor einer Woche Menschenrechtsaktivisten in Moskau getroffen habe, unter anderem von Estemirowas Organisation. "Solch ein abscheuliches Verbrechen sendet ein abschreckendes Signal an die russische Bürgergesellschaft und die internationale Gemeinschaft."