Polizei schützt ethnische Minderheit vor Übergriffen durch Han-Chinesen. Peking fürchtet jetzt ein zweites Tibet.

Peking. Chinas nationale halbstündige Frühnachrichten wurden nach zehn Minuten durch eine Sondermeldung unterbrochen. Der Sprecher verlas, dass Staats- und Parteichef Hu Jintao wegen "der Lage in der autonomen Region Xinjiang", wo es zu den schwersten ethnischen Unruhen seit Jahrzehnten in China kam, seine Teilnahme am G8-Gipfel in L'Aquila absagt. Präsident Hu werde sofort von Italien aus zurück nach China fliegen und auch nicht zur Staatsvisite nach Portugal fahren.

Die ungewöhnliche Änderung in einer sonst nie spontan aktualisierten politischen Nachrichtensendung war nicht die einzige Neuigkeit für eine verblüffte Öffentlichkeit. Noch nie hatte ein chinesischer Staatsführer wegen einer innenpolitischen Krise einen Staatsbesuch abgesagt. Schon gar nicht eine so wichtige Zusammenkunft wie G8; dort sollte China, das nur Beobachterstatus hat, diesmal eine Hauptrolle spielen. Hus Botschaft an das eigene Volk war eindeutig: Für Pekings Führung war der Aufruhr, bei dem in der Nacht zu Montag bei pogromartigen Übergriffen von Uiguren gegen HanChinesen (die Bevölkerungsmehrheit im Reich der Mitte) mindestens 156 Menschen starben und 1080 verletzt wurden, so außer Kontrolle geraten, dass der Parteichef zurückkehren musste. Ein Regierungsberater bestätigte, dass Peking nicht nur eine weitere Eskalation in der Provinzhauptstadt befürchtet, wo unter den Einwohnern Wut, Angst und Rachegefühle gären. Ebenso wird die Ausweitung des ethnischen Konflikts auf andere uigurische Städte befürchtet. In Urumqi riegelten schwer bewaffnete Sicherheitskräfte alle von Uiguren bewohnten Stadtteile ab, um Zusammenstöße mit Han-Chinesen vorzubeugen. Am Dienstag, als zuerst 3000 Han-Chinesen mit Knüppeln und Messern durch die Straßen mit Rufen nach Rache und Vergeltung zogen und die Provinzführer eine nächtliche Ausgangssperre anordnen mussten, sei die Entscheidung zur Rückreise Hus gefallen .

Die vor aller Welt sichtbare Krise der chinesischen Minderheitenpolitik kommt als schwerer Rückschlag für die Regierung. Zum 60. Jahrestag der Gründung ihrer Volksrepublik am 1. Oktober wollte sie nach außen das Bild einer "harmonischen Gesellschaft" vorzeigen. Die Rückkehr Hus wurde auch als Zeichen gewertet, dass Pekings Führer von ihrem Missmanagement des Aufruhrs in Tibet abrücken und nach einem transparenteren Umgang mit Entscheidungen bei Krisen suchen. Am Tag der tibetischen Unruhen am 14. März 2008 hatte etwa in Peking der Volkskongress getagt, ohne die Tibetfrage auf seine Tagesordnung zu setzen. Anders als in der Tibetkrise erlaubte Chinas Regierung diesmal, dass Korrespondenten nach Urumqi fahren durften, und stellte ihnen dort ein Pressezentrum zur Verfügung. Journalisten klagten allerdings, dass ihnen neue Auflagen für ihre Recherchen gemacht würden und sie beispielsweise anmelden müssen, wohin sie in der Stadt gehen wollen.

Selbst Chinas Medien wie die Nachrichtenagentur Xinhua berichteten, dass Urumqi ungeachtet verstärkter Militär- und Hubschrauberpatrouillen weit von aller Normalität entfernt sei. Ihre Reporter schrieben über Gedränge am Flughafen, wo Stadtbewohner Flugscheine erstehen wollen, um auszufliegen Sie zitierten einen Passagier: "Wir fürchten, dass Xinjiang nicht mehr sicher ist." Hotels in Flughafennähe seien überfüllt mit Menschen, die am Mittwoch keinen Flugschein ergattern konnten. Gemüseverkäufer, von denen nur jeder Dritte seinen Laden öffnete, hoben ihre Preise auf die zwei- bis dreifache Höhe an. So kosteten Kartoffeln mit 40 Cent pro Kilo mehr als zweimal, ein Pfund Bohnen (70 Cent) sogar dreimal so viel wie am Wochenende. Dennoch wurden Hamsterkäufe beobachtet: Viele Bürger trauen der Lage nicht.