Sie leben wie zu Urgroßmutters Zeiten, nach den strengen Regeln ihres Glaubens: 200 deutschstämmige Mennoniten und Baptisten in der Steppe Kleinasiens.

Bischkek. Das Erste, was bei den Mädchen in diesem geheimnisvollen Dorf am Ende der Welt auffällt, sind die Zöpfe. Naturblond, geflochten und lang.

Rot-Front heißt der Ort am Fuße des Tienschan-Gebirges im Norden Kirgisistans, inmitten karger Steppe unweit der alten Seidenstraße gelegen. 200 deutschstämmige Einwohner leben in dieser abgelegenen Siedlung, 7000 Kilometer von Berlin entfernt, aber nur 350 Kilometer bis zur chinesischen Grenze.

Der Ort mit dem kurios kämpferischen Namen ist die letzte deutsche Gemeinde in Zentralasien. 1927 wurde sie von deutschen Siedlern unter dem Namen Bergtal gegründet, später von den Sowjets in Rot-Front umbenannt.

"Der Flug hierher ist immer eine Zeitreise in die Vergangenheit", sagt Stephan Münchhoff. "Zwischen Start und Landung liegen hundert Jahre." Der Thüringer lehrt im Auftrag der Zentralstelle für Auslandsschulwesen an der Dorfschule Deutsch. "Es ist schwierig, mit den Familien in Kontakt zu kommen. Sie sind ein abgekapselter, streng religiöser Mikrokosmos." Mennoniten und Baptisten. Zu einem Schüler nach Hause ist er noch nie gekommen.

Herbe Landluft und eine erfrischende Weltferne durchziehen jeden Winkel des Dorfes. Die Siedlung besteht aus den Parallelstraßen Unter dem Berg und Freundschaft, gesäumt von Bauernhöfen und Pappeln.

Die blonden Mädchen mit der auffälligen Haarpracht tragen weder Schmuck noch Schminke. Dafür stets lange Röcke, weite Pullover und flache Schuhe. So gehen sie zum Unterricht, spielen Volleyball, backen Brot, hüten Vieh, melken Kühe, machen Butter und Käse, kehren mit Reisigbesen die Höfe und ziehen Rüben aus der trockenen Erde. Alles wie zu Urgroßmutters Zeiten.

"Wir haben kein Internet, gucken kein Fernsehen und dürfen uns nicht die Haare schneiden", sagt die 18-jährige Lilli Keller. Sie kommt gerade von der Bibelstunde im Bethaus. So nennen die Rot-Fronter ihre Kirche, gebaut in den 80er-Jahren. "Wir leben wie hinter dem Mond", sagt sie. Leider? Oder zum Glück? "Keine Ahnung." Der Glaube bestimmt die Regeln. Liane Schmidt, Lillis beste Freundin, sagt: "Wir pflegen alte Werte und Traditionen. Jeder spielt mindestens ein Instrument. Mandoline, Geige, Klavier oder Akkordeon. Und wir singen Lieder. Stundenlang."

Lilli erzählt: "Bisher hat noch kein deutsches Mädchen zur Ausbildung das Dorf verlassen. Auch wir wollten eigentlich in der Hauptstadt Bischkek eine weiterführende Schule besuchen. Aber als die Eltern das endlich erlaubt hatten, war die Gemeinde dagegen." In der Stadt, hieß es, würden sie "vom Glauben abfallen".

Lilli muss los, das Abendessen für ihre neun Geschwister zubereiten. Sie ahnt, wie ihre Zukunft aussehen könnte: "Kirche und Kinder."

Café, Kneipe oder Sportverein gibt es hier nicht. Kein Platz, wo man sich treffen und tratschen kann. Alkohol und Zigaretten? Sex vor der Ehe und Verhütung? Oder gar eine Beziehung mit Andersgläubigen? Alles verboten.

Dass deutsche Reporter da sind, hat sich schnell unter den frommen Rot-Frontern herumgesprochen. Zwar sind gerade Strom und Wasser ausgefallen, aber der Ofen bollert. Und zum Frühstück gibt es schwarzen Tee und deftige Pferdewurst. Die blonden Kinder auf ihren großen Fahrrädern strahlen den Besucher an. Bäuerinnen, das Haar unter dem Kopftuch hochgesteckt, stellen schweigend Milcheimer an die Straße. Acht kirgisische Som (umgerechnet 15 Cent) bekommen sie pro Liter.

In den Gärten hinter den meist weiß-blau gestrichenen, zweigeschossigen Häusern gackern glückliche Hühner. Schweine grunzen in windschiefen Ställen. Ein Reiter treibt Pferde über die Koppel. Dies alles vor einer grandiosen Kulisse: Hinter der von der milden Morgensonne beschienenen Herde erheben sich im Süden die mehr als 4000 Meter hohen Berge des Tienschan-Gebirges. Die Giganten sind von Gletschern bedeckt. Stachelschweine, Steinböcke, Steinadler und Wölfe leben dort oben. Ein atemberaubender Anblick.

"Das ist Medizin für einen Mitteleuropäer, was?", fragt plötzlich ein Mann mit blauen Augen und akkurat gestutztem Oberlippenbart. "Keller", stellt er sich vor. "Johann Keller." Er ist der Vater von Lilli. Er hat zehn Kinder, die meisten im Ort.

Keller verschafft den Besuchern aus Deutschland Zugang zur Dorfgemeinschaft. Wir kommen zu den Höfen der Hamms und Hofmanns, Janzens und Koops, Peters und Pauls, Schmidts, Thielmanns und Wedels. Alles kinderreiche Clans und irgendwie miteinander verwandt. Des einen Sohn wurde mit des anderen Tochter verheiratet. Wobei auffällt, dass es viel mehr Mädchen als Jungen gibt. Irgendwann, das weiß auch Keller, könnte das traditionelle Heiraten ausschließlich unter Menschen gleichen Glaubens ein Problem werden. "Aber das ist nur eins unserer Probleme."

Die Einrichtung der Häuser ist immer ähnlich und überraschend modern. Da gibt es dunkle Schrankwände, bunte Teppiche, Plastikblumen, kitschige Bilder mit deutschen Traumlandschaften und christlichen Sinnsprüchen. Die Produktnamen sind vertraut: Nescafé, Lux-Seife, Colgate. Dazu finden sich Telefon, Gefrierschrank und Waschmaschine - eigentlich alles da. Und in vielen Hausauffahrten steht ein Audi. "Das sind einfach gute Autos für diese raue Gegend", sagt der stellvertretende Ortsvorsteher Willi Hamm, 41. "Irgendwann hat sich der Erste einen aus Deutschland geholt. Dann haben es alle nachgemacht."

Vieles von dem, was hier so "westlich" anmute, sei von der Verwandtschaft in Deutschland "gesponsert", verrät Lydia Koop. Sie ist mit 76 Jahren die Dorfälteste. "Wir selbst haben doch kaum Geld", sagt die alte Frau. Von umgerechnet zwölf Euro Rente im Monat muss sie leben. "Das reicht nur für Reis, Salz und Drops."

Das Leben der Großfamilien findet fast ausschließlich zwischen Bethaus und Bauernhof statt. Alle besitzen genügend Vieh und Acker, um sich selbst versorgen zu können. Was auf den Tisch kommt, stammt meist aus dem eigenen Stall oder vom selbst bewirtschafteten Feld.

Bezahlte Arbeitsplätze sind rar. Eine Genossenschaft, vor zwölf Jahren aus den Relikten der Kolchose gegründet, steht am Rande des Ruins. Eine Molkerei, 1998 von der Bundesrepublik finanziert und vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog übergeben, steht still und verrottet. Die Kredite sind versickert. Der frühere Ortsvorsteher Abram Falk wurde von der Gemeinde verstoßen. Im vergangenen August hat er gemeinsam mit seinem 11-köpfigen Clan das Dorf verlassen - Richtung Deutschland. Über den verschwundenen Glaubensbruder hört man in Rot-Front kein gutes Wort.

"Wer Glück hat, verdient in der Bäckerei, der Schlosserei oder der Mühle ein paar Som", sagt Johann Keller, der sich mit einer Autowerkstatt selbstständig gemacht hat. "Aber meist wird in Naturalien gezahlt."

Stolz präsentiert er seine Kinder: Lilli, das bereits vorgestellte Mädchen, Veronika, Anna und Erika, Erwin, Regina, Franz und Nelli, Stefanie und Benjamin. Sie alle haben sich zum Sonntagsmahl am Tisch versammelt. Es gibt Reh und Reis. Keller hat das Fleisch als Lohn für eine Autoreparatur bekommen.

"Wir können natürlich Russisch", sagt Mutter Helene, 39, "aber zu Hause wird nur deutsch gesprochen." Die Mühsal des Alltags ist ihr deutlich anzusehen. Ansonsten schweigt sie. Bei den Mennoniten und Baptisten in Rot-Front herrscht noch die strenge Rollenverteilung, wie die Bibel sie vorgibt: "Der Mann ist das Haupt, das Weib die Gehilfin."

Auch bei den Kellers ist Vaters Wort Gesetz. Er erklärt die prekäre Situation: Bis zum Ende der Sowjetunion haben hier noch 2000 Deutsche und nur zwei Kirgisen, die Viehtreiber, gelebt. Anfang der 90er-Jahre erließ die Bundesregierung dann die Rückführungsgesetze für Auslandsdeutsche. Jeder, der wollte, war willkommen. Und die Verlockung war groß. Das "Virus Deutschland", die Hoffnung auf ein schönes und leichteres Leben, hat in den vergangenen Jahren das Dorf leer gefegt. "Aber wir", beteuert Keller, "werden auf keinen Fall in den Westen abhauen. Wir halten die Stellung." Er lächelt in die Runde.

In den Häusern, die von ihren deutschen Besitzern verlassen wurden, leben jetzt Kirgisen und Russen. Man erkennt die Häuser an den Fernsehantennen auf dem Dach. Und an den morschen Zäunen.

Die meisten Zugezogenen sind Muslime, die zum Beten in die Moschee in den Nachbarort Sowchos gehen. Wenn der Wind von Osten weht, hört man den Imam bis in Johann Kellers Küche. "Aber alles ist friedlich", sagt Keller. "Wir hoffen, das bleibt so."

Am Abend ist es ganz still. Im Bethaus und in den Ställen sind die Lichter erloschen. Silbriges Mondlicht schimmert durch die Blätter der schlanken Pappeln. Noch einmal erzählt Lilli. "Außer mir waren fast alle schon mal in Deutschland", sagt die 17-jährige Schülerin. "Wenn sie dann hierher zurückkommen, ist es immer das gleiche. Die Frauen wollen lieber dort leben, die Männer hier bleiben. Ich frage mich, wie Gott diesen Konflikt lösen wird."

Nachdenklich blickt Lilli in den funkelnden Sternenhimmel. Bevor sie zurück ins Haus geht und sich an den Abwasch macht, hat sie noch eine Bitte: "Schicken Sie mir Bücher, Prospekte, Zeitschriften. Ich möchte so viel wissen über Ihr fernes, fremdes Land." Denn wer weiß: "Vielleicht wird es irgendwann auch meine Heimat sein."