Bei sechs Grad und strahlendem Sonnenschein haben sich die Isländer heute aufgemacht, ihre neue Regierung zu wählen. Die Sorgenfalten in den Gesichtern der Wähler sind tief, die Erwartungen sind groß: Die Zukunft ihres von der Finanzkrise gebeutelten Landes steht auf dem Spiel.

Reykjavik. Reykjavik hat sich herausgeputzt für seinen großen Tag. Vor dem Regierungsgebäude und den rund 14 Wahllokalen in der Hauptstadt wehen blau-rot-weiße Nationalflaggen. Sogar die Sonne hat beschlossen, an diesem Tag zu scheinen und strahlt von einem fast wolkenlosen Himmel herab.

Bei sechs Grad haben die ersten Cafebesitzer Tische und Stühle draußen aufgestellt, Einheimische und Touristen haben ihre Sonnenbrillen aufgesetzt. Die kleine Hafenstadt am Nordatlantik vibriert vor Leben nur wer genau hinsieht, wundert sich über die zahlreichen "Til leigu”-Schilder (Zu vermieten) an leer stehenden Läden in der Haupteinkaufsstraße.

Die Schilder sind nur ein kleiner Hinweis darauf, was sich seit dem Höhepunkt der Finanzkrise im September 2008 auf der Vulkaninsel ereignet hat: Island steht am Rand des Staatbankrotts, kann nur mit Hilfe von internationalen Krediten weitermachen. Alle Banken mussten verstaatlicht werden, die Inflation ist auf 15 Prozent gestiegen, der Wert der isländischen Krone dramatisch gefallen. Die Inselbewohner zahlen die Zeche für die hochriskanten Finanzgeschäfte ihrer Banken mit einer explodierten Arbeitslosenquote, steigenden Preisen und Krediten, die sie nicht mehr zurückzahlen können.

Auch deshalb wird heute gewählt. Weil Hunderte von Isländern auf die Straße gegangen und gegen die konservative Regierung demonstriert haben. Nach wochenlangen Protesten hatte der konservative Premierminister Geir Haarde im Februar sein Amt der Sozialdemokratin Johanna Sigurdardottir überlassen müssen. "Es ist das erste Mal in der Geschichte Islands, dass zwei linksgerichtete Parteien in den Umfragen vorn liegen”, sagt Helgi Gunnlaugsson, Professor für Soziologie an der Universität Island. "Wir brauchen einen Wertewandel.”

Diesen Wandel könnte der Linksrutsch herbeiführen, mit dem heute gerechnet wird. Sigurdardottir, wegen ihrer Skandalfreiheit auch "Heilige Johanna” genannt, hat gute Chancen, das Amt der Regierungschefin zu behalten. Das besagen die Umfragen und das sagen die Menschen in den Wahllokalen. "Wir brauchen mehr Frauen in der Regierung und auch in den Führungsetagen der Banken”, sagt eine junge Frau in Gardabaer, einer Kleinstadt am Rande Reykjaviks. Die Wahl findet in einem Gymnasium statt, einem modern eingerichteten Gebäude mit blauen Sesseln auf den Fluren. Auch hier weht die isländische Flagge im Wind.

"Das ist ein besonderer, ein wichtiger Tag für Island”, sagt die junge Frau. Sie ist seit zwei Monaten arbeitslos und befürchtet, ihr Haus zu verlieren. Auch ein altes Ehepaar hat sich mit Gehhilfen aufgemacht, um die Stimmen abzugeben. Sie haben einen Großteil ihrer Ersparnisse verloren. "Wenn wir überall auf der Welt mehr Frauen in den Regierungen hätten, wäre es seine bessere Welt”, sagt der 84 Jahre alte pensionierte Fischer. Seine großen blauen Augen blitzen hinter den runden Brillengläsern, als er auf die Finanzbosse schimpft. "Ich hasse Bankräuber!”

Die Wahlbeteiligung ist gut, besser als in den vergangenen Jahren. Umfragen trauen der konservativen Unabhangigkeitspartei von Ex-Premier Geir Haarde nicht mehr als 20 Prozent aller Stimmen zu. So wird die Wahl zwischen den beiden linksgerichteten Parteien, die momentan die Minderheitsregierung bilden, vor allem an einer Frage entschieden: Ob Island sich der EU öffnen soll. Die Sozialdemokraten sind dafür, die Linksgrünen strikt dagegen. Die Bevölkerung ist geteilter Meinung, etwa 50 Prozent sind für, etwa 50 Prozent gegen einen EU-Beitritt, schätzt Professor Gunnlaugsson.

In einem sind sich die meisten Wahler aber einig: "Wir wollen vor allem gute Leute in der Regierung”, sagt eine blonde Islanderin im roten Mantel. "Leute, die nicht die Armen noch ärmer und die Reichen noch reicher machen.”