Wie der Hamburger Ruder-Weltmeister Peter-Michael Kolbe 1980 die Entscheidung gegen die Spiele in Moskau erlebte.

Hamburg. An den Tag der Entscheidung erinnere ich mich noch genau. Es war der 15. Mai 1980. Das Nationale Olympische Komitee (NOK) tagte in Düsseldorf. Wir saßen in Ratzeburg gebannt vor dem Fernseher, mit mir verfolgten noch etwa 30 andere Ruderer die Live-Übertragung. Seit Wochen hatten wir uns auf dem Küchensee auf die Olympischen Spiele vorbereitet. Seit Wochen war uns aber auch bewusst, dass wir wegen des Einmarsches der Sowjetunion in Afghanistan wahrscheinlich nicht nach Moskau werden fahren dürfen. Die Zeichen aus der Politik waren zu eindeutig: Boykott!

Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), ganz in Bündnistreue mit US-Präsident Jimmy Carter, führte die Front der Befürworter an. Von den Sportfunktionären kamen unterschiedliche Signale. NOK-Präsident Willi Daume wehrte sich gegen die Einmischung aus Bonn. "Sport darf nicht der Knüppel der Politik sein", sagte er. Der FDP-Politiker Willy Weyer, Präsident des Sportbundes, wollte boykottieren. Daume vermittelte in Gesprächen mit uns Sportlern immer den Eindruck, dass er alles versuchen werde, um das Schlimmste zu verhindern. Er sollte kläglich scheitern. Als die Entscheidung für den Olympia-Boykott fiel, verstummte jedes Gespräch. Wir schauten uns fassungslos an. Ich spürte, wie alle Energie aus meinem Körper wich. Es war so, als hätte jemand mit einer Nadel in einen Ballon gestochen. Plötzlich war alle Luft raus.

Ich fühlte mich elend. Verbitterung stieg in mir hoch, weil man mir die vielleicht größte Chance meiner Karriere auf den Gewinn der olympischen Goldmedaille gestohlen hatte. Ich fühlte mich auch hilflos, ohnmächtig. Wenn ich im Ruderboot einen Fehler gemacht hatte, war ich verantwortlich. Aber wer hatte jetzt die Verantwortung? Wir begriffen schließlich: Wir waren alles kleine Figuren in einem großen Theater. Einen Tag später reiste ich aus Ratzeburg ab. Während der Spiele in Moskau fuhr ich in den Urlaub. Die Ergebnisse habe ich aus der Zeitung erfahren. Es waren für mich Meldungen aus einer anderen Welt. Vom NOK haben wir nach dem Boykottbeschluss nur ein paar dürre Zeilen des Bedauerns erhalten. Als wir hörten, dass einige Funktionäre nach Moskau reisen werden, um an olympischen Kongressen teilzunehmen, brach für einige von uns eine Welt zusammen. Verstanden haben wir den Boykott ohnehin nie. Nicht wegen unseres persönlichen Schicksals - das wären wir bereit gewesen gegen den Weltfrieden einzutauschen. Aber dieser Olympia-Boykott hat kein Menschenleben in Afghanistan oder anderswo gerettet. Hätten wir, der Westen, nicht viel mehr Aufmerksamkeit erreicht und Wirkung erzielt, wenn wir vor Ort in Moskau unseren Protest gezeigt hätten, im Stadion, im olympischen Dorf, auf den Straßen? Als Boykotteure fiel es den Sowjets leicht, uns in die Ecke der Kalten Krieger zu stellen. Dazu bedurfte es keiner dialektischen Argumentation.

Die Diskussion um einen Boykott der Sommerspiele in Peking kann ich deshalb schwer nachvollziehen. Als das Internationale Olympische Komitee (IOC) China 2001 den Zuschlag gab, regte sich in der Weltöffentlichkeit kaum Widerstand. Was aber hat sich in den vergangenen sieben Jahren grundlegend in China geändert? Die Regierung ging damals wie heute unnachgiebig gegen Andersdenkende vor, sie tritt die Menscherechte weiterhin mit Füßen und sperrt Regimegegner ein. Der Tibetkonflikt schwelt seit Jahrzehnten. Das alles hat das IOC - und die Politik - bei der Entscheidung für Peking akzeptiert. Jetzt aber aufzuheulen und zu beklagen, wie schlimm doch alles in China ist, halte ich für scheinheilig. Oder waren einige etwa so naiv zu glauben, Olympia mache aus einer Diktatur eine Demokratie? Das hat noch nie funktioniert. Die Spiele 1936 in Berlin sind dafür ein beredtes Beispiel.

Unsere Sportler sollten nach Peking fahren, sie sollten sich aber vorbereiten auf das Land, auf die Menschen und das politische System. Sie sollten kenntnisreich vor den Fernsehkameras der Welt und mit den Menschen auf den Straßen und Plätzen diskutieren können. Die Briten, habe ich gehört, wollen ihren Athleten einen Maulkorb verpassen. Unsere Sportler dürfen reden. Das sollten sie in Peking nutzen.