Entwicklungshilfe: Nach 40 erfolglosen Jahren geht die Uno neue Wege - in einem Dorf in Kenia führen sie zum Ziel. Nach nur 18 Monaten hat sich die Mais-Ernte fast verdreifacht, ist das Wasser trinkbar und verfügt das Dorf über ein Gesundheitswesen.

Sauri/Kenia. Tecla Odalo muss noch ein bisschen üben. Ihr fallen die Zahlen einfach nicht ein. Die alte Bäuerin steht in blauen Flip-Flops auf ihrem Feld und denkt nach. Um sie herum wuchern Leguminosen, mannshohe Pflanzen, die den Boden mit Stickstoff versorgen. Darüber denkt sie nach. Was haben die neuen Anbautechniken gebracht, die ihr die Leute von den Vereinten Nationen gezeigt haben? Was der Kunstdünger? Schließlich murmelt sie etwas auf Kisuaheli, der Mann von der Uno übersetzt: "Vorher hatte ich auf diesem Feld eineinhalb Säcke Mais, jetzt sind es vier."

Odalos Feldnachbar George Lanyo hat die Zahlen schneller parat: "Vorher waren es vier Säcke Mais pro Acre." Ein Acre entspricht ungefähr einem Drittel Hektar. "Mit Leguminosen sind es acht, mit Leguminosen und Kunstdünger zwölf", rechnet er vor. Sauri, ein Dorf am kenianischen Ende der Welt, ist infiziert vom Vorher-nachher-Fieber. Es gibt ja auch einiges vorzuzeigen.

Sauri ist ein Labor-Dorf. Millennium Village nennen es die Vereinten Nationen. Hier versuchen sie seit eineinhalb Jahren zu zeigen, wie auch im Kleinen die hochgesteckten, von der Weltorganisation beschlossenen Millennium-Entwicklungsziele erreicht werden können: die Armut in der Welt bis 2015 halbieren, das Leben von einer Milliarde Menschen radikal verbessern. Die 5000 Einwohner von Sauri sollen zu den Ersten gehören.

Aber warum soll nach 40 Jahren meist vergeblicher Entwicklungshilfe ausgerechnet dieses Projekt funktionieren? Jeffrey Sachs, Direktor des Earth Institute an der Columbia University in New York und Initiator des Experiments, antwortet mit einem Wort: ganzheitlich. Landwirtschaft, Wasserversorgung, Gesundheit, Bildung, Infrastruktur, Unternehmen, Energie, Umwelt - alles soll gleichzeitig in Angriff genommen werden, nicht einzeln wie in den meisten Entwicklungsprojekten.

Neu ist die Idee allerdings nicht. In den 70er- und 80er-Jahren wurde Ähnliches unter dem Schlagwort Integrated Rural Development versucht. Es funktionierte nicht. "Das war zwar integriert, aber nicht in die Bevölkerung", erklärt Pedro Sanchez den Misserfolg. Der Experte für tropische Böden vom Earth Institute ist einer der wenigen ausländischen Fachleute in Sauri. Sonst arbeiten in dem Projekt nur Einheimische. Die Einwohner haben acht Komitees für die einzelnen Arbeitsbereiche gegründet und Vorsitzende gewählt, fünf davon sind Frauen.

Wilfrida Ogutu, die Vorsitzende des Wasserkomitees, zeigt auf eine betonierte Quelle. "Es gibt 39 Wasserstellen im Dorf, zehn davon haben wir jetzt repariert und fünf neue gebaut. Wir wollen auch sieben Tanks aufstellen, um Regenwasser zu sammeln", sprudelt sie hervor. Vorher war die Wasserstelle ein Teich, aus dem die Frauen schöpften. Der Zement für die Befestigung und die erfahrenen Bauarbeiter kamen vom Millennium-Villages-Projekt, die großen Steine und die ungelernten Helfer aus dem Dorf. Jetzt wissen die Bewohner selbst, wie es geht, sagt die Vorsitzende des Wasserkomitees: "Eine Wasserstelle haben wir schon ganz allein gebaut."

Ganz Sauri wurde vor Projektbeginn vermessen, schließlich handelt es sich um ein wissenschaftliches Experiment. Die 1000 Haushalte wurden nach Einkommen und Energieverbrauch befragt, mit Hilfe von Satellitenbildern wurde die Landnutzung analysiert, auf Versuchsfeldern die Bodenqualität überprüft, 950 Einwohner wurden auf Malaria untersucht.

Die Vorher-Daten waren niederschmetternd: 22 Prozent der Einwohner waren von Geldsendungen der Verwandten aus der Stadt abhängig, weitere 27 Prozent von der Landwirtschaft, andere Wirtschaftszweige waren kaum entwickelt. Die Böden waren ausgelaugt, vor allem Stickstoff und Phosphor fehlten. Nur 20 Häuser waren an das Stromnetz angeschlossen. 43 Prozent der getesteten Einwohner hatten Malariaparasiten, 80 Prozent der Kinder unter fünf Jahren litten an Blutarmut, die HIV-Rate lag bei 24 Prozent, die Lebenserwartung bei 37 Jahren für Männer und 43 Jahren für Frauen. "Sauri war die perfekte Illustration der Armutsfalle", sagt Guido Schmidt-Traub, der stellvertretende Direktor des Millennium-Projekts.

Und wie sehen die Nachher-Daten für Sauri aus? Für die Landwirtschaft gibt es schon Vergleichszahlen, und die sind erstaunlich: In nur einer Saison ist die Maisproduktion von durchschnittlich 1,8 Tonnen je Hektar auf 5 Tonnen hochgeschnellt. "Vorher haben wir nur Pilotprojekte gemacht, hier mal ein Beutel Kunstdünger, da mal ein Kilo neues Saatgut", sagt der Bodenexperte Sanchez. Das Millennium-Villages-Projekt hat den Bauern von Sauri insgesamt 120 Tonnen Dünger und 8 Tonnen Saatgut zur Verfügung gestellt.

Und was geschieht in fünf oder zehn Jahren, wenn die Uno Sauri verlässt? Dann sollen die Bauern so viel Überschüsse produziert haben, dass sie Samen und Kunstdünger selbst kaufen können, erklärt Sanchez: "Das passiert sogar zum Teil schon heute, weil wir ihnen nicht so viel geben, wie sie gern hätten." Mit den zusätzlichen Einnahmen aus dem Maisanbau soll die Dorfwirtschaft diversifiziert werden: Die Überschüsse sollen reichen, um hochwertige Produkte wie Gemüse und Obst für den Markt anzubauen, Vieh zu halten und Milchprodukte herzustellen, Maschinen zu kaufen und Handwerksbetriebe zu eröffnen. So stellt Sanchez sich das vor, und die Dorfbewohner machen mit: "Die wollen nicht mehr nur Subsistenzwirtschaft betreiben, die wollen Kleinunternehmer werden."

Zunächst aber standen die Bauern vor einem neuen Problem: Sie mussten Getreidespeicher für ihre Überschüsse bauen. In fast jedem Haus gibt es nun einen kleinen Speicher, den die Bewohner stolz vorzeigen. "Vorher musste ich Mais zukaufen", erzählt der Bauer George Lanyo. "Jetzt habe ich sogar genug, um zu verkaufen." Er ist jetzt Mitglied der Maisbank. Sie kauft Überschüsse auf, um Ernteausfälle auszugleichen. Und zehn Prozent ihrer Ernte geben die Bauern für die Schulspeisung ab.

Ein kleines Gebäude leuchtet weiß über den staubigen Hof der Bar-Sauri-Schule, sein Blechdach funkelt in der Sonne. Jetzt, um die Mittagszeit, stehen Kinder in weißen Hemden und blauen Hosen oder Röcken davor Schlange. Es ist die neue Küche. In riesigen Töpfen haben Frauen aus dem Dorf Mais und Bohnen gekocht. Die Schüler strecken ihnen Plastikteller entgegen.

Eingeführt hat das Schulessen die ehemalige Direktorin, lange bevor das Dorf zum Millennium Village wurde. "Viele Schüler waren müde, vor allem nachmittags. Einige fielen sogar in Ohnmacht", erinnert sich ihr Nachfolger Joseph Lanyo Oriwo. Den Lehrern fiel auf, dass viele Kinder, die zum Mittagessen nach Hause gingen, nach ein paar Minuten wieder auftauchten: "Da gab es einfach nichts zu essen." Fast die Hälfte der 500 Schüler hat die Eltern durch Aids verloren.

Die Schuldirektorin trieb bei den übrigen Eltern Mais und Bohnen auf, einige Lehrer griffen in die eigene Tasche. So begann die Schulspeisung im Jahr 2000. Und die Leistungen der Schüler explodierten, berichtet Oriwo: "1999 waren wir bei den nationalen Prüfungen auf Platz 198 im Bezirk, ein Jahr später auf Platz 68, noch ein Jahr später auf Platz 4."

Keine 500 Meter von der Bar-Sauri-Schule blitzt ein weiteres Gebäude in frischem Weiß-Blau. Vor eineinhalb Jahren war hier nur Busch. "Unter dem Baum da vorn haben wir uns getroffen, am 14. Oktober 2004", erzählt Rose Ajode. "Da haben sie mich zur Vorsitzenden des Gesundheitskomitees gewählt." Die Dorfbewohner wollten eine Klinik bauen, das stand ganz oben auf ihrer Liste für die Uno, direkt nach der Verbesserung der Ernte. Nun gab es Geld für Zement, Wellblech, Nägel, Möbel und auch für den Klempner. "Wir haben jetzt hier einen Klinikchef, einen Laboranten, drei Krankenschwestern und sechs Gesundheitsarbeiter", zählt die Vorsitzende des Gesundheitskomitees auf.

Die Civil Health Workers von Sauri wurden dafür ausgebildet, die Dorfbevölkerung über Gesundheitsfragen aufzuklären: Wie pflege ich einen HIV-Infizierten? Wie benutze ich ein Moskitonetz? 3000 insektizidbehandelte Netze wurden verteilt, über jedem Bett in Sauri sollte jetzt eines hängen.

Doch wie bringt man die Menschen dazu, den kostenlos angebotenen Schutz auch zu nutzen, statt die Netze zu verkaufen, wie es oft geschieht? Bisher sei im Millennium Village so etwas kaum vorgekommen, versichert Sachs. Schließlich sähen sich die Dorfbewohner als Vertragspartner und nicht als Empfänger von Wohltaten. Doch auch in Sauri wohnen keine Heiligen. Die Dorfältesten mussten bereits einen Bauern davon abhalten, seinen Gratis-Kunstdünger zu Geld zu machen.

Schon wollen Bauern aus den Nachbardörfern am Kunstdüngersegen teilhaben. Die Millennium Villages sollen auf Einheiten von 50 000 Einwohnern ausgedehnt werden, das soll ein wenig Erleichterung schaffen. Finanziert wird die Erweiterung von Sachs' Privatinitiative Millennium Promise. "Allerdings wird es dann neue Grenzen geben und neue Eifersucht", ahnt Sachs. Sein Traum ist es, dass eines Tages ganz Afrika zum Millennium Village wird, dass andere Projekte die Idee übernehmen.

Das Scaling-up, wie Sachs es nennt, beginnt gerade in Sauri. Bäuerinnen aus dem Nachbardorf Anyiko sind zu Gast. Sie drängen sich um Christine Anyango, die mit einer Hacke Löcher in den Boden schlägt, immer an einer gespannten Leine entlang. Sie demonstriert die neuen Anbautechniken, in dieser Regenzeit sollen auch ihre Frauen aus Anyiko sie anwenden. Anyango skandiert etwas auf Kisuaheli, die Bäuerinnen wiederholen es im Chor: "Dreißig Zentimeter auseinander, fünf Zentimeter tief, sechs Körner pro Loch."

\*Der hier leicht gekürzte Beitrag ist in "ZeitWissen" erschienen.