Colonia Dignidad: Ein Leben lang bekämpfte der Hamburger Wolfgang Kneese seinen Peiniger Schäfer. Jetzt will er den Chef der deutschen Sekte in Chile verurteilt sehen - und im Gefängnis besuchen.

"Sie haben Paul Schäfer festgenommen." Als Wolfgang Kneese diesen Satz von seinem Freund hört, steckt er mitten im Abflugprocedere am Frankfurter Flughafen. Der 59jährige ist auf dem Weg nach Santiago de Chile. Einen Moment lang steht für den Hamburger die Welt still. Wolfgang Kneese kann es kaum glauben. Er ist der Sieger, nicht Schäfer. Er ist am Ziel nach 40 Jahren, in denen er diesen "Teufel in Person", wie er Schäfer nennt, unaufhörlich jagte, Beweismaterial gegen ihn sammelte und die Polizei in Chile bei der Suche nach dem seit 1997 untergetauchten Sekten-Führer der Colonia Dignidad unterstützte.

In Tag- und in Alpträumen, beim Job und in der Freizeit - Kneeses Gedanken kreisten immer um die Colonia Dignidad. Denn Kneese wurde als Kind mehrfach von Schäfer vergewaltigt und war fünf Jahre lang Gefangener in der von Schäfer 1961 gegründeten Colonia Dignidad. Paul Schäfer hat Kneese alles genommen: seine Jugend, seine Würde, sein seelisches und körperliches Heil.

"Meine größte Angst war, daß Schäfer stirbt und meine ganze Arbeit damit umsonst gewesen wäre. Ich will erleben, daß er für seine Verbrechen an mir und den anderen Menschen zur Rechenschaft gezogen wird", sagt Kneese dem Hamburger Abendblatt am Telefon. Er ist seit mehr als zwei Wochen in Chile und unterstützt die dortige Justiz bei der Anklage gegen den 83 Jahre alten Kinderschänder.

Schäfer war am 10. März nahe der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires in seiner luxuriösen Unterkunft verhaftet und nach Chile ausgeliefert worden. Dort muß er sich wegen Entführung politischer Gefangener der Pinochet-Diktatur (1973-1990) verantworten. Am 21.3. wurde Schäfer zudem wegen Kindesmißbrauchs in 26 Fällen angeklagt.

"Das ist erst der Anfang. Die Lawine ist losgetreten", sagt Kneese mit Genugtuung. Eine Lawine, die er mit ins Rollen gebracht hat, die er über Jahre durch Druck auf die Behörden am Laufen hielt. "Ich muß mich jetzt nur noch an den Rand setzen und zusehen, wie zusammen mit Schäfer Politiker, Geheimdienstler und Unternehmer, die ihn unterstützten, in die Tiefe stürzen."

Jahrzehntelang stand die Colonia Dignidad, zu deutsch die "Kolonie der Würde", unter dem Schutz der chilenischen Regierung. Regimegegner der Pinochet-Diktatur sollen dort zu Tode gefoltert worden sein, etliche verschwanden spurlos auf dem 17 000 Hektar großen Areal in der Nähe der Stadt Parral. Nach Pinochets Abgang wurde der Colonia 1991 die Gemeinnützigkeit aberkannt. Aber erst sechs Jahre später tauchte Schäfer unter - chilenische Mütter hatten ihn wegen sexuellen Mißbrauchs ihrer Söhne angezeigt. Schäfer hatte Kinder armer Bauern mit dem Versprechen einer guten Schuldbildung in die Colonia gelockt.

Als Kneese davon erfuhr, gründete er 1997 den Hamburger Verein "Flügelschlag. Gegen Kindesmißbrauch durch Sekten" und hat seither sein Privatvermögen im Gegenwert eines Reihenhauses in die Unterstützung der von Schäfer mißbrauchten Kinder gesteckt. "Sie bekommen von mir Geld für den Anwalt, für ihre Kleidung und ihr Essen", sagt Kneese, der gleichzeitig 200 Aktenordner mit Unterlagen, Beweisstücken und Zeugenaussagen über die Verbrechen der Colonia gesammelt hat.

Kneese war zwölf, als er in Schäfers Fänge geriet. Ein hübscher Junge aus Ottensen, blauäugig und feingliedrig, wie Schäfer es liebt. Als Junge mochte er die Gemeinschaft mit anderen Kindern in Freizeitcamps. Seine Tante brachte ihn in den Ferien 1957 nach Siegburg, wo der Jugendpfleger Schäfer gerade seine Private Sociale Mission aufbaute - mit der Hilfe von Baptisten.

"Er hat mich gleich in der ersten Nacht vergewaltigt. Ich wußte überhaupt nicht, was mit mir geschah", sagt Kneese. Obwohl er den Sex mit dem Laienprediger Schäfer verabscheute, hielt ihn dessen Charisma gefangen. "Er gab uns allen das Gefühl, auserwählt zu sein." So schrieb Kneese seiner Mutter, daß er in der Gemeinschaft bleiben möchte, und sie gab ihre Einwilligung, als Schäfer den 16jährigen Jungen angeblich zu einer Konzertreise nach Dänemark mitnehmen wollte. Nur führte die Reise nicht in den Norden, sondern nach Chile. Rund 50 Kinder wurden praktisch entführt.

Schäfer, dem in Deutschland ein Haftbefehl wegen Unzucht anhing, suchte mit 260 Getreuen rund 400 Kilometer südlich von Santiago de Chile Zuflucht. Kinder und Jugendliche mußten unter Sklavenbedingungen ein Dorf errichten, eine Heimstatt, in der Schäfer ungestraft jahrzehntelang seinen perversen Neigungen folgte. "Er hat das Lager nur dafür errichtet", sagt Kneese. "Schäfer brauchte ständig Nachschub an kleinen Jungen, jeden Tag einen, nur unter 14 Jahren waren sie für ihn interessant."

In der "Kolonie der Würde" durften Eheleute nicht zusammenleben, sondern wohnten nach Geschlechtern getrennt in Gemeinschaftshäusern. Ohne Schäfer galt Sex als Sünde, unerlaubte Regungen wurden mit Teufelsaustreibungen und Schlägen bestraft. Mütter wurden nach der Geburt von ihren Kindern getrennt. "Mädchen waren Arbeitssklavinnen, die Jungen Bettgefährten", sagt Kneese. "Schäfer hat uns innerlich gebrochen. Diese perverse, realitätsfremde Welt wurde für mich und die anderen zur einzigen Wirklichkeit. Wir waren ständig in Projekte eingespannt, hatten keinen Moment Privatsphäre, waren nie allein und doch so einsam, wie eine Seele nur sein kann."

Dreimal versuchte Kneese zu fliehen, zweimal holten ihn Schäfers Schergen zurück. Er wurde unter Psychopharmaka gestellt, durfte ein Jahr lang nicht reden, wurde als Aussätziger gekennzeichnet. "Sie hatten Angst, daß ich ihr sauberes Image zerstöre." Schließlich war die Colonia eine Wirtschaftsmacht und wichtigster Arbeitgeber in der Region. Ihr Steinbruch belieferte die Straßenbauunternehmer, ihr Elektrizitätswerk den Strom, die Backwaren kamen in die Läden der Umgebung. Auch bei der CSU war das deutschtümmelnde Päderastenparadies lange Zeit beliebt - wurde dort doch die bayerische Tracht noch getragen. "Franz Josef Strauß übernachtete sogar in unserem Dorf", sagt Kneese.

Mit 20 Jahren konnte Kneese seinen Peinigern entkommen und flüchtete sich in die deutsche Botschaft in Santiago. Dort erzählte er den ungläubigen Beamten von den Zuständen in der Horror-Kolonie. Die Colonia strengte einen Prozeß gegen Kneese an, ließ ein psychologisches Gutachten mit Hilfe seiner Tante, die noch immer im Lager wohnt, erstellen. Er wurde als gestört, aggressiv und dumm von der Sekte vorgeführt und wegen Pferdediebstahls verurteilt, in Abwesenheit.

Kneese war vor dem Prozeß schon über die Anden nach Argentinien geflohen und mit Hilfe der deutschen Botschaft nach Hamburg zurückgekehrt. Statt die Vergangenheit zu verdrängen, kämpft er seither mit aller Macht gegen die Colonia Dignidad - seit 1983 gemeinsam mit seiner Frau Heike Kneese.

Vor Jahren hat Kneese die Colonia noch einmal besucht, zusammen mit einem chilenischen Polizeichef, der Schäfer auf dem Areal suchte. "Ich wollte meine Todesängste besiegen." Es half, aber noch einmal möchte Kneese das Areal nicht betreten. Er hat sich jedoch mit Colonia-Bewohnern getroffen - mit denen, die in der jetzt Villa Baviera heißenden Kolonie etwas Neues aufbauen wollen. Von anderen, unter anderem seiner Tante, hat er Briefe der Entschuldigung bekommen. "Das tat sehr gut", sagt Kneese.

Nun hat er nur noch einen Herzenswunsch: Schäfer im Gefängnis besuchen. "Ich möchte ihn in seinem Rollstuhl schieben. Er hat mich so lange manipuliert, ich möchte einmal Macht über ihn haben." Wenn ihm das gelingt, glaubt Kneese von dem Gespenst der Colonia Dignidad befreit zu sein. Dann will er heim zu seiner Frau, seiner Tochter und den beiden Enkelkindern. "Dann fängt endlich mein Privatleben an."