Nicht Chicago oder New York, sondern Gary führt bei tödlichen Verbrechen die US-Statistik an. Banden, Waffen, Drogen - ein einst blühender Ort im Ausnahmezustand.

Gary/US-Staat Indiana. Was muss das für ein düsterer Ort sein, über den in Reiseführern geschrieben steht: "Hier gibt es nichts zu sehen, und es hat hier niemand etwas verloren, außer er betreibt Sozialstudien . . . oder ist lebensmüde." Dieser düstere Ort heißt Gary und liegt im US-Bundesstaat Indiana, eine Autostunde von Chicago entfernt. Hier leben 103 000 Menschen, hier wuchs Popstar Michael Jackson auf und - das ist das Besondere an Gary: Hier werden statistisch mehr Leute umgebracht als in jeder anderen Stadt der USA.

68 waren es im vergangenen Jahr, was einer Quote von 66,1 auf je 100 000 Einwohner entspricht. Damit liegt Gary deutlich vor der einstigen Mord-Hauptstadt Washington (46,3) und noch klarer vor Chicago (21), wo einst Al Capone sein Unwesen trieb, oder New York, wo von je 100 000 Einwohnern "nur" noch 7,3 Opfer von Mord und Totschlag wurden.

"Das ist natürlich ein Stigma für unsere Stadt", beklagt Garys Polizeichef Garnett Watson Jr. "Trotzdem muss man das relativieren. 1995 hatten wir noch 130 Morde, also fast doppelt so viele wie letztes Jahr."

Gary ist in der Tat ein düsterer Ort. Einer, von dem man ohne Übertreibung sagen kann, dass man hier nicht einmal begraben sein möchte. Ganze Häuserzeilen im Zentrum sind ausgebrannt oder vernagelt. Die wenigen Geschäfte, die noch nicht geschlossen haben und zumeist Alkohol und Videos anbieten, sind mit schweren Stahlgittern verbarrikadiert und werden von bewaffneten Sicherheitsbeamten bewacht. An fast jeder Ecke lungern Jugendliche herum und handeln ziemlich unverblümt mit Drogen.

Das Kongress-Zentrum - ein langweiliger Stahlbetonklotz - sieht zwar nicht anders aus als Hunderte andere Kongress-Zentren in den USA. Doch in einem Punkt unterscheidet es sich, wie Bürgermeister Scott King einräumen muss: Hier hat es seit mehr als 30 Jahren keinen einzigen Kongress mehr gegeben . . .

Fast vier von fünf tödlichen Verbrechen in Gary stehen mit Drogen und den zahlreichen Gangs in Verbindung. Die Polizei schätzt, dass es in der Stadt rund 100 verschiedene Banden gibt. Die bekannteste und berüchtigste sind die "Terrytown Boys". In der Polizeizentrale sehen die Beamten täglich im Schnitt 20 Banden-Mitglieder, die dort Waffen offiziell registrieren lassen. "Wir können nichts machen gegen den Waffenwahnsinn", klagt Sean Jackson, ein Polizist, der seit fünf Jahren mit seinem Kollegen Shane Bolde Streife fährt. Sie dürfen Gang-Mitgliedern mit gültigem Waffenschein die Pistole erst dann wieder abnehmen, wenn damit ein Verbrechen begangen wurde. 7600 Waffen hat die Polizei vergangenes Jahr konfisziert, fast so viele, wie vorher genehmigt wurden.

Freilich ging es in Gary nicht immer so zu. Im Vorzimmer von Bürgermeister King hängt ein angegilbtes Foto aus dem Jahre 1923 mit dem Titel "Die modernste Stadt der Welt". Damals hatte Gary als einzige Stadt Amerikas eine vollständige Straßenbeleuchtung und elektrische Straßenbahnen. Es gab fast nur neue Häuser, da die Stadt erst 17 Jahre zuvor von Stahlbaronen gegründet worden war. Ihren Namen hat sie von Elbert H. Gary, dem damaligen Vorsitzenden von U.S. Steel, dem größten Stahlunternehmen der USA.

Bis 1950 war Gary ein fast ausschließlich "weißes" Städtchen, in dem es so gut wie keine Arbeitslosigkeit gab. Dann kamen immer mehr Schwarze aus dem Süden der USA, weil die Löhne lockten. Auf 175 000 Einwohner wuchs Gary in jener Zeit. Mitte der 60er-Jahre bildeten Afroamerikaner bereits die Hälfte der Bevölkerung. King erinnert sich gut, wie Immobilienhändler damals Panik schürten: "Sie sagten den Weißen, dass ihr Besitz bald völlig wertlos sei, wenn noch mehr Schwarze kämen. Sie kauften Häuser zu Spottpreisen und verkauften sie mit Riesenprofit an Afroamerikaner." Die Weißen zogen in die Vorstädte, überließen den Schwarzen das Zentrum. Als die Stahlindustrie Mitte der Sechziger plötzlich in die Krise geriet, ging es mit Gary steil bergab. Zuerst verloren die Schwarzen ihren Job. Die Weißen verlagerten nun auch ihre Geschäfte in die Peripherie. Bei den Rassenunruhen 1968 gingen viele Häuser in der Stadt in Flammen auf. Heute gibt es keine Rassenprobleme mehr, da 85 Prozent der Einwohner schwarz sind. Polizeichef Watson, selbst Afroamerikaner: "Wenn heute jemand umgebracht wird, dann nicht wegen seiner Hautfarbe, sondern weil er der falschen Gang angehört oder mit Drogen handelt." Auch Bürgermeister King, ein Jurist, hat Morddrohungen bekommen. "Das schreckt mich nicht, ich kenne die Typen aus meinen Gerichtszeiten", meint er gelassen.

Trotz allem ist King zuversichtlich, dass Gary einmal zu alter Schönheit zurückkehren wird. "Dies ist keine schlechte Stadt, und die Mehrheit der Leute ist auch gut", sagt er. King will die ausgebrannte Innenstadt wieder zum Leben erwecken. Deshalb ließ er, trotz viel Kritik, für 45 Millionen Dollar ein neues Baseballstadion bauen und holte ein Zweitliga-Team, die "Southshore RailCats" in die Stadt. Den Immobilien-Mogul Donald Trump überredete er, ein Casino in Gary zu bauen. Der Versuch, Pop-Ikone Michael Jackson für den Bau eines 50 Millionen Dollar teuren Vergnügungsparkes zu gewinnen, schlug indes vergangenes Jahr im letzten Moment fehl.

Kings nächstes Ziel ist, das "redlining" abzuschaffen. Hinter diesem Begriff steckt, dass Gary von der Hotelbranche sowie Supermarktketten geschnitten wird. So gibt es kein einziges Hotel oder Motel, was wiederum Kongresse unmöglich macht. Selbst Firmen wie Gap oder Staples, die in den USA in jedem Ort über 20 000 Einwohner zu finden sind, machen einen großen Bogen um Gary. "Zu gefährlich", heißt es von offizieller Seite.

Einstweilen werden Sean Jackson, Shane Bolde und die anderen Polizisten von Gary also weiterhin rund um die Uhr gegen das Verbrechen in der US-Hauptstadt des Mordes und Totschlags kämpfen. Sie werden auf ihren Touren durch Dary Miller, Ivanhoe und Delany, den gefährlichsten Sozialbausiedlungen der Stadt, jugendliche Drogendealer festnehmen, um sie wenig später wieder freilassen zu müssen, da sie einen festen Wohnsitz haben. Sie werden vermutlich, wie letzten Dezember, auch wieder einmal zu einem Dreifachmord gerufen werden und sich darüber ärgern, dass ihnen ein Killer "die Statistik verhagelt".

Und doch - man mag es kaum glauben - wollen die beiden Cops Jackson und Bolde mit nichts und niemandem tauschen. "Es ist der geilste Job der Welt, hier gibt es wirklich was zu tun. Und irgendwann werden wir Gary wieder zu dem machen, was es einmal war, eine gemütliche, lebenswerte Stadt." Sagt Bolde lachend, schaltet Sirene und Lichtorgel an, um zum nächsten Einsatz zu fahren.