Wenn sie am Dienstag vor der Westfront des Capitols steht, in dem großen Moment seiner Vereidigung, würden Millionen etwas dafür geben, ihre Gedanken zu lesen. Vielleicht denkt sie an ihre Eltern oder ob ihre Töchter neben ihr warm genug angezogen sind. Vielleicht kommt ihr auch alles wie ein großes, wattiges Wunder vor.

Hamburg/Washington. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass Michelle Obama die Zeremonie bei allem Stolz auch mit einem kritischen Blick registriert. Liza Mundy beschreibt sie in der ersten Michelle-Obama-Biografie als überaus bodenständig. In Scharen dürften Autoren und Journalisten Schlange gestanden haben, um über das Leben der derzeit gefragtesten Frau der Welt zu schreiben Mundy war schneller.

Die Hauptstadt-Korrespondentin der "Washington Post" hat die Obamas im Wahlkampf begleitet, sie interviewt, hat mit mehr als hundert ihrer Bekannten, Freunde, Weggefährten gesprochen. Ihr Bild von Michele Obama hat viele satte Farbtöne. Die Frau, auf die viele Menschen in diesen Tagen blicken und von der Barack Obama sagt "She is the boss", ist nicht glatt. Sie verhehlt bis heute nicht, dass sie am Anfang der Karriere ihres Mannes Politik für "reine Zeitverschwendung" hielt.

Zwar hat sie das politische Geschäft sehr genau verstanden, aber sie liebt es nicht. Und den "Bewunderungsblick", den frühere Präsidentengattinnen zelebrierten, hat sie auch nicht drauf. Michelle Obama ist ein 1,80 Meter großer Illusions-Abwehrschirm. Sie wurde am 17. Januar 1964 geboren, in jenem Jahr, in dem das Bürgerrechtsgesetz "Civil Rights Act" die Rassendiskriminierung gesetzlich aufhob. Ebenso wie ihr Mann gehört sie zur ersten Generation, die von Förder- und Integrationsmaßahmen, vom zaghaften Aufstieg der Afroamerikaner profitierte. Aber anders als Barack - mit seiner schillernden Weiße-Mutter-kenianischer-Vater-Biografie in Hawaii und Indonesien - hat sie noch etliche Spätfolgen der Rassentrennung erlebt. Nicht er, sondern sie stammt aus einer schwarzen Arbeiterfamilie, einem schwarzen Viertel in Chicago.

Das prägt auch ihre Haltung beim Eintritt in die Welt der Macht, die bisher von Weißen gestaltet wurde. Während Obama in seiner Rhetorik die Hoffnung verkörpert, hat Michelle eine Bandbreite von vorsichtigem Optimismus, Skepsis und manchmal auch Wut zum Ausdruck gebracht, etwa in ihren Wahlkampfreden. Die ambivalente afroamerikanische Erfolgsstory verkörpert nicht er, sondern sie. Als zweites Kind von Fraser und Marian Robinson wird Michelle in Chicago geboren. Der Vater, dessen Familie auf Sklaven in Georgia zurückgeht, verdient als Hausmeister bei den städtischen Wasserwerken 6000 Dollar im Jahr. Chicago ist noch eine typische Industriearbeiterstadt mit streng nach Rassen getrennten Vierteln. Nach dem Wegfall der Diskriminierung von Schwarzen auf dem Wohnungsmarkt kann die Familie in einen besseren Stadtteil umziehen, nach South Shore mit vielen kleinen Läden und einem guten Nachbarschaftsnetzwerk.

Zwar erzählt Michelle später, ihr Vater habe nur vier Löffel gehabt, "und als er dann eine kleine Gehaltserhöhung bekam, hatten wir fünf Löffel". Aber der Familie geht es recht gut. Hier, in einem langsam entstehenden schwarzen Mittelstand, einer Atmosphäre von bescheidenem Wohlstand und Sicherheit, wächst das Mädchen auf. Mutter Marian bleibt zu Hause und kümmert sich um Michelle und ihren älteren Bruder Craig. Michelle übt stundenlang Klavier, hat eine afroamerikanische Barbiepuppe und einen Puppenofen, in dem man Kekse backen kann. Craig erinnert sich daran, dass sie beide oft "Büro" spielten. Sie war die Sekretärin, er der Chef. Aber sie bestand darauf, alles selbst zu erledigen.

In der Grundschule wird Michelle mit elf Jahren in ein Begabtenprogramm für schwarze Kinder aufgenommen. Die anschließende Whitney Young High School ist eine der ersten, in der Jugendliche aller Rassen gemeinsam lernen.

Bis heute schwärmt Michelle Obama von dieser harmonischen Kindheit in einer intakten, großen Familie mit vielen Onkeln, Tanten und Cousins in einem "behüteten" Viertel. Später, beim Niedergang der "alten" Industrien in den 80ern, hat sie dann auch den sozialen Abstieg vieler Viertel erlebt, die zunehmende Kriminalität, die tiefe Resignation vieler Afroamerikaner. Die Botschaft ihrer Eltern habe gelautet: "Das Leben ist nicht fair. Das ist eben so. Du bekommst nicht immer, was du verdienst, aber du musst hart arbeiten, um zu bekommen, was du willst. Und dann bekommst du es manchmal trotzdem nicht."

An der Eliteuniversität Princeton erlebt Michelle einen herben Kontrast zu ihrer Jugend. Gerade mal zehn Prozent der Studierenden sind schwarz, und Princeton gefällt sich noch in einer elitären weißen Klubatmosphäre. Als die Mutter von Michelles Zimmergenossin erfährt, dass man ihrer Tochter ein schwarzes Mädchen zugewiesen hat, ruft sie eine ganze Nacht lang Ehemalige und Campus-Freunde an und versucht, das rückgängig zu machen. Der Tochter, die sich mit Michelle gut versteht, ist das peinlich.

An der Harvard Law School wird es angenehmer. Michelle beteiligt sich dort an der kostenlosen Rechtsberatung für Arme. Nach dem Abschluss beginnt sie 1987 bei einer renommierten Wirtschaftskanzlei in Chicago. Sie ist, wie die Autorin und damalige Kollegin Mary Hutchinson Reed erzählt, sehr modebewusst, hat ein sicheres Auftreten und Sinn für Humor. Aber auch ihr großer Ehrgeiz wird bemerkt, der sie "permanent unzufrieden" wirken lässt.

Das ändert sich, als Barack Obama 1989 einen Ferienjob in der Kanzlei absolviert. Zuerst begutachtet sie den Neuen distanziert. Sie findet, dass er sich schlecht kleidet, und vermutet einen "redegewandten Schönling". Die ganze Kanzlei hat den Eindruck, so eine Kollegin, dass Michelle "total verknallt" ist. Aber sie will unbedingt cool bleiben. Weil sie mit bisherigen Freunden so wählerisch war, glaubt ihr Bruder an ein Strohfeuer. "Ich dachte: Schade, das wäre ein netter Kerl gewesen." Aber 1992 heiratet sie den Mann, der auf ihrer Schreibtischecke gesessen und sie angeflirtet hat.

Was hat sie fasziniert? Sie selbst sagt: sein Anderssein, seine Exotik, aber auch seine Fähigkeit, in der sozialen Frage eine Vision zu entwerfen. Barack Obama, der schnell politische Ambitionen entwickelte, fand damals "die richtige Frau für eine gemeinsame Karriere" in sozialen und politischen Funktionen, sagt ein Freund, "eine Frau, die ihm helfen konnte, in der politischen Welt Wurzeln zu schlagen".

Das hat sie überzeugend getan. Aber sie hat auch ihren Preis bezahlt. Sie arbeitete in der Chicagoer Stadtplanung und als Geschäftsführerin in der Fundraising-Organisation "Public Allies", die Jugendliche für gemeinnützige Arbeit rekrutiert. Und blieb berufstätig in Chicago, als die Töchter Malia (1998) und Sasha (2001) geboren wurden und ihr Mann längst Senator geworden war. Seither lebt die Familie mit einem Wochenend-Vater. Dennoch gehört Michelle Obama zu den wichtigsten Beratern ihres Mannes. Freunde und Mitarbeiter sagen übereinstimmend: Sie ist es, die ihn erdet. Und sie ist es, die ihn - den exotischen, untypischen, charismatischen Überflieger - den Amerikanern immer wieder erklärt. Sie tut es auf eine eigene, ehrliche, sachliche, nicht immer politisch erwartete Art.

Inzwischen tut sie es auch lockerer. Sie hat in populären TV-Talkshows getanzt, gelästert, gelacht. Sie weiß, dass sie ein Mode-Vorbild geworden ist. Sie scheint sich allmählich etwas zu gönnen, das sie sich versagt hatte: die Freude über das, was die Obamas erreicht haben.