Ustica-Absturz: 23 Jahre nach der Katastrophe will Libyens Staatschef Gaddafi jetzt belegen, dass US-Kampfjets die italienische Maschine abschossen - weil sie sie mit seiner verwechselten.

Rom. Es ist der 27. Juni 1980, ein warmer Sommerabend. Kurz nach 20 Uhr startet in Bologna eine DC-9 der italienischen Gesellschaft Itavia (Flugnummer 870). An Bord: 64 erwachsene Passagiere, elf Kinder, zwei Säuglinge und die vierköpfige Besatzung. Das Ziel: Palermo auf Sizilien. Geplante Flugzeit: 100 Minuten. Gegen 20.40 Uhr verschwindet die Maschine plötzlich vom Radar der Flugsicherung. Eine Suchaktion noch in derselben Nacht bleibt ergebnislos. Erst am nächsten Mittag entdecken Suchmannschaften nahe der Insel Ustica Wrackteile, Koffer und Schwimmwesten. Ein Absturz? Ein Bombenanschlag? Oder gar ein Abschuss? Für Jahrzehnte blieb der Todesflug der DC-9 das größte Mysterium in der Geschichte der italienischen Luftfahrt. Untersuchungskommissionen sammelten Indizien und kamen nacheinander zu unterschiedlichen Resultaten. Die bislang letzte Variante aus dem Jahr 2000: Amerikanische und libysche Militärjets seien während eines Luftkampfes der Zivilmaschine so nahe gekommen, dass sie sie zum Absturz brachten. Jetzt aber hat Libyens Staatschef Muammar el-Gaddafi angekündigt, er könne und wolle anhand von Radaraufzeichnungen beweisen, was sich an jenem Abend im Luftraum über dem Thyrrenischen Meer wirklich abgespielt hat. Seine Version besagt, dass US-Kampfjets Jagd auf sein Privatflugzeug, ebenfalls eine DC-9, gemacht hätten. Er spricht von der "geheimsten Luftschlacht", in deren Verlauf die Amerikaner die Maschinen verwechselt und versehentlich das Linienflugzeug der Itavia abgeschossen hätten. Eine Wende in den bisherigen Ermittlungen? Und warum jetzt? Will Gaddafi auch in diesem Fall "reinen Tisch" machen, nachdem er nun die Hinterbliebenen von Opfern verschiedener Anschläge entschädigen will, die seinem Regime zur Last gelegt wurden? "Unsere Überzeugung war immer, dass die Linienmaschine Opfer eines kriegerischen Aktes wurde. Die Aussagen von Gaddafi scheinen das zu bestätigen", sagt ein Sprecher der Untersuchungskommission, die von dem römischen Oberstaatsanwalt Rosario Priore geleitet wird. Mittlerweile hat das italienische Parlament die Regierung aufgefordert, in Washington um Aufklärung der zu ersuchen. Ministerpräsident Silvio Berlusconi versicherte, mit seinem Freund Georg Bush, darüber zu reden. Chef-Ermittler Priore hat in jahrelanger Kleinarbeit eine Fülle von Indizien zusammengetragen, die Gaddafis Version nicht stützen müssen, aber könnten. So fand Priore beispielsweise heraus, dass noch in der Nacht des Unglücks auf den italienischen NATO-Flugbasen Trapani und Sigonella auf Sizilien sowie Bagnoli bei Neapel alle Radaraufzeichnungen systematisch vernichtet wurden. Priores Rekonstruktion der Ereignisse ergab, dass an jenem Abend des 27. Juni 1980 - vermutlich vom NATO-Stützpunkt Sigonella aus - US-Kampfflugzeuge vom Typ F-4 Phantom und F-104 Starfighter aufstiegen, obwohl an dem Tag keine Manöver vorgesehen waren. Was immer diese Flugzeuge vorhatten, es sollte unbekannt bleiben. Einen Zeugen hatte man allerdings vergessen zu informieren: Admiral James Flatley, Kommandant des US-Flugzeugträgers "Saratoga", der vor dem Hafen von Neapel lag. Er sagte wenige Tage nach der Katastrophe aus, dass sein Flugzeugträger besonders intensive Flugmanöver vor der Westküste Italiens aufgezeichnet habe. Doch auf Anfrage der italienischen Luftwaffe seien diese Aufzeichnungen an den italienischen Geheimdienst Sismi übergeben worden. Von den Bändern fehlt bis heute jede Spur. Der Admiral bekam kurz darauf ein Sprechverbot vom Pentagon. Im Radar-Raum der "Saratoga" will man damals gesehen haben, dass gegen 20.30 Uhr ein zweistrahliges Flugzeug vom Typ DC-9 von Mailand kommend in Richtung Süden mit Kurs auf Tripolis (Libyen) unterwegs war. Gleichzeitig bewegte sich eine zweite Maschine auf der Route in Richtung Süden, die DC-9 der Itavia aus Bologna. Was den Kommandanten der "Saratoga" damals so entsetzte war, dass die DC-9 mit Kurs auf Tripolis nicht allein flog, sondern von zwei MIG-23-Kampfflugzeugen begleitet wurde. Diese beiden MIGs hätten auf dem Radarschirm nicht sein dürfen. Keine Nation, die MIGs besaß, hätte an diesem Abend ihre Maschinen ohne Erlaubnis über italienischem Territorium fliegen lassen dürfen. Es konnte nie geklärt werden, weshalb die MIGs über Italien flogen. Erst jetzt erklärte Gaddafi, dass die Kampfmaschinen sein Flugzeug auf dem Heimweg nach Tripolis schützen sollten. Möglicherweise war Gaddafi wegen seiner Beteiligungen an Industrieunternehmen wie dem Fiat- Konzern in Italien gewesen. Nach Meinung von Chef-Ermittler Priore stiegen die F-4 Phantom und F-104 Starfighter erst auf, als die MIGs auf dem Radarschirm eindeutig identifiziert worden waren. Hatten die US-Piloten den Auftrag, das Flugzeug des aus amerikanischer Sicht unberechenbaren und gefährlichen Libyers abzuschießen? Und hat man deswegen die Radaraufzeichnungen verschwinden lassen? Weitgehend gesichert ist, dass in der Nähe der Linienmaschine US-Kampfflugzeuge und die MIG-23 aufeinander trafen. "Die Piloten der Linienmaschine hatten noch die Zeit, die Kampfjets zu sehen. Dann führten die Kampfflugzeuge den Absturz herbei", schrieb Priore. Rätselhaft war bisher, warum die US-Jets auf eine italienische Linienmaschine hätten schießen sollen. Gaddafi will jetzt mit Radar-Aufzeichnungen beweisen, dass die US-Piloten irrtümlich auf die Itavia-Maschine schossen. Um Gaddafi zu schützen, sollen die MIG-Piloten damals ein einfaches, aber wirksames Manöver unternommen haben: Sie verließen Gaddafis Maschine und eskortierten zum Schein das Linienflugzeug. Wenn die libyschen Angaben stimmen, fielen die US-Piloten auf den Trick herein und schossen das falsche Flugzeug ab. Nur zwei Wochen nach der Katastrophe schien zunächst klar zu sein, wer die Schuld daran trug. In Kalabrien, in den Bergen des Sila-Massivs, entdeckte die Polizei eine abgeschossene MIG-23. Sie hatte, bevor sie abgestürzt war, selbst Raketen abgefeuert. In der Maschine fand die Polizei die stark verwesten Leichen der Piloten. Italiens Regierung erklärte damals, der Fall sei gelöst: Libysche Piloten hätten die Itavia-Maschine abgeschossen. Doch wer immer die Trümmer der MIG in die Berge gebracht hat, machte einen entscheidenden Fehler: Die Obduktion der Piloten ergab, dass sie am Abend des 27. Juni 1980 schon seit mindestens einer Woche tot waren. Der Vorfall löste damals eine Regierungskrise aus, in deren Verlauf die Chefs der Geheimdienste Sismi und Sisde entlassen wurden. Doch ist bis heute unklar, wer die toten Soldaten in libysche Uniformen steckte und auf den Sila-Berg brachte. Oberstaatsanwalt Priore geht davon aus, dass die USA den italienischen Geheimdienst seinerzeit zwangen, die Schuld auf die Libyer zu lenken. War das nur eine "Schlacht" des Kalten Krieges, oder wollten die Amerikaner die eigene Schuld vertuschen? Fest steht, dass 81 unschuldige Menschen ums Leben kamen und dass mehr als ein Dutzend ihrer Angehörigen seit drei Jahren als Nebenkläger vor Gericht in Bologna sitzen, in der Hoffnung, eines Tages nicht nur Schadenersatz, sondern auch Gewissheit zu bekommen, was am Abend des 27. Juni 1980 wirklich geschah.