Der Staatschef verspricht Wohlstand, Freiheit und Demokratie - ohne den Zusatz “gelenkte“.

Dmitri Medwedew, Russlands Präsident, hat sich als Freund überraschender Wendungen präsentiert. Er gab sein erstes Interview für ein russisches Printmedium nach knapp einjähriger Amtszeit völlig unerwartet der oppositionellen Zeitung "Nowaja Gaseta". Der Zeitung, die als eines der ganz wenigen russischen Blätter die Politik des Kreml höchst kritisch verfolgt und die bei der Staatsbürokratie und den Militärs wegen ihrer Unbeugsamkeit verhasst ist. Die Zeitung druckte das Interview gestern ab.

Mehrere Journalisten, darunter Anna Politkowskaja, zuletzt die junge Anastassija Baburowa und der Rechtsanwalt Stanislaw Markelow, mussten ihr Engagement für die von der Zeitung vertretenen demokratischen Ideen mit dem Leben bezahlen. Medwedew, der zu dem Doppelmord im Januar zunächst geschwiegen hatte, "um die Ermittlungen nicht zu beeinflussen", wie er sagte, sandte dann jedoch ein starkes Signal aus. Er lud Chefredakteur Dmitri Muratow und den Mitherausgeber und sowjetischen Ex-Präsidenten Michail Gorbatschow zu einem Gespräch in den Kreml.

Das jetzt veröffentlichte Interview bestätigt den bereits zuvor gewonnenen Eindruck, dass der Präsident der Zeitung gegenüber eine Haltung einnimmt, die sich von der seines Vorgängers Wladimir Putin unterscheidet. Putin hatte nach dem Mord an Anna Politkowskaja zynisch erklärt, ihr Tod habe Russland mehr geschadet als alle ihre kritischen Artikel.

Ob dieses angedeutete neue Verhältnis des Präsidenten zur kleinen Gemeinde der russischen Opposition eine Phase von mehr Toleranz und Demokratie einläutet, ist allerdings sehr ungewiss. Denn auf den Straßen Russlands greift gegenwärtig eher das Gegenteil um sich: Immer öfter werden Oppositionelle und Andersdenkende angegriffen, brutal zusammengeschlagen oder ermordet.

Ungewiss ist es auch deshalb, weil unklar ist, ob Medwedew den übergroßen Einfluss von Militär und Geheimdiensten tatsächlich eindämmen kann und will. Zudem sind die Aussagen des Interviews über weite Strecken schwammig, unscharf und lassen verschiedene Interpretationen zu. Die Tatsache, dass es in der "Nowaja Gaseta" erschien, wiegt schwerer als der Inhalt. Immerhin offenbarte der russische Präsident ein Demokratieverständnis, dass sich von dem seines Vorgängers abhebt. Er wandte sich gegen die Vorstellung, Stabilität und Wohlstand könnten auf Kosten von Demokratie und Freiheit erlangt werden.

Als Muratow nachfragte, ob er die Vereinigung von Freiheit und Wohlstand anstrebe, antwortet der Kremlchef mit einem klaren Ja. Er halte nichts vom Prinzip ,Wurst statt Freiheit'. Das klang bei seinem Amtsvorgänger noch anders. Da galt in den Führungsetagen die Annahme, die Bevölkerung sei bereit, auf bestimmte Rechte im Austausch gegen Stabilität und Wohlstand zu verzichten.

Ein Gegensatz zu Vorstellungen Putins offenbart sich auch in der Interpretation des Demokratie-Begriffs. Der Premier, seine Partei Geeintes Russland und die Putin-Jugend "Naschi" betonen den tiefen Gegensatz zwischen der "souveränen Demokratie" in Russland und der westlichen Demokratie. Für Medwedew dagegen ist der Demokratiebegriff "völlig übernational", sagte er. "Die Demokratie bestand, sie besteht und wird weiter bestehen." Die Wortwahl erinnerte an einen Spruch aus der Sowjetzeit: "Lenin lebte, lebt und wird leben."

Allerdings habe er den Eindruck, dass viele Russen der Demokratie zwiespältig gegenüberstünden, weil sie sich an den Umbruch in den ersten Jahren nach dem Ende der Sowjetunion erinnerten. "Das war eine sehr schwierige Zeit für sie", sagte der Präsident, der sein Amt im Mai vergangenen Jahres antrat.

Medwedew kritisierte außerdem das unter seinem Vorgänger Putin verschärfte Gesetz für nicht staatliche Organisationen (NGO) und mahnte Korrekturen an. "Wir haben jede Menge Vorfälle, in denen die Arbeit der NGOs ohne ausreichende Gründe behindert wird", sagte er. Das Gesetz sei nicht "ideal" und müsse zur Stärkung der Bürgergesellschaft in Russland verbessert werden. Menschenrechts-, Umwelt- und viele andere gemeinnützige Organisationen, die sich für die demokratische Entwicklung Russlands einsetzen, kritisieren das Gesetz seit Langem als "Schikanierung".

Den Fall des Ex-Yukos-Chefs Chodorkowski umschiffte Medwedew weiträumig. Für den Präsidenten gebe es in derlei Fällen die Freiheit der Kommentierung nicht, sagte er.

Chefredakteur Muratow zeigte sich mit dem Interview zufrieden, das die Zeitung auf drei vorderen Seiten abdruckte. Medwedews Antworten seien "präzise und adäquat" gewesen.

Beobachter streiten allerdings auch nach dem Interview weiter darüber, ob Medwedews Forderungen nach mehr Rechtsstaatlichkeit in Russland ernst gemeint oder nur Zugeständnisse an den Westen ohne Aussicht auf Umsetzung sind.

"Die Demokratie bestand, sie besteht und wird weiter bestehen." Russlands Präsident Dmitri Medwedew