Mit Abu Jahja al-Libi verliert die al-Qaida ihren Vize-Chef. Damit haben die USA das gefürchtete Terrornetz fast komplett enthauptet.

Berlin/Singapur/Washington. Der Coup hatte eine gewisse Ironie, denn die Drohnenkrieger der USA wendeten eine Taktik an, mit der gerade Anschlagsplaner der al-Qaida die Opferzahlen zu vervielfachen gelernt haben - ein erster Schlag, der Schaulustige und Helfer anlockt, dann ein zweiter, der sie alle in den Tod reißt. So ähnlich soll nach Informationen der "Welt" auch der Angriff vom Montag im Dorf Suhail nahe Miranshah im pakistanischen Stammesgebiet Nord-Waziristan abgelaufen sein. Ein unbemannter Flugkörper zerstörte mit einer Rakete ein Haus. Die Dörfler liefen nach einer Schrecksekunde zum Ort des Einschlages, auch die Kämpfer der al-Qaida, die sich mit dem Vize-Chef des Terrornetzes in Suhail aufhielten - Abu Jahja al-Libi, Feldkommandeur, Prediger und Internet-Propagandist der Organisation und die Nummer zwei hinter deren Chef Aiman al-Sawahiri. Etwa eine Viertelstunde nach dem ersten Treffer raste die zweite Luft-Boden-Rakete in die Menge. Mindestens zehn Menschen starben. Libi konnte noch in ein Krankenhaus in Miranshah gebracht werden, dort starb er. Dass sie wirklich ihr Ziel getroffen hatten, erfuhren die Terrorbekämpfer der CIA nur durch abgefangene Funksprüche und Telefongespräche: "Der Scheich ist tot", so gaben es die Kämpfer im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet weiter. Mit diesem Ehrennamen für einen geachteten Theologen konnte nur einer gemeint sein.

In Washington wurde der Tod Libis mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Er bringe die Terrororganisation "ihrem ultimativen Ende noch näher" erklärte das Weiße Haus. Auch der angesehene Terror-Experte Peter Bergen sieht al-Qaida nach dem Verlust seiner Nummer zwei "mehr oder weniger nicht mehr im Geschäft". Der Autor des umfassendsten Buchs zu der zehnjährigen Jagd auf Osama Bin Laden ("Manhunt") glaubt, für dessen Nachfolger al-Sawahiri sei es eine "fast unlösbare Aufgabe" geworden, die USA oder ihre Verbündeten anzugreifen. Seit den Anschlägen in London 2005 war al-Qaida im Westen nicht mehr erfolgreich, seit dem 11.9.2001 nicht mehr in den USA.

+++Drohnenangriff gegen den Terror: USA töten al-Qaidas "Nummer zwei"+++

Mit seinem Drohnenkrieg punktet Obama im Wahlkampf. Selbst bei Gegnern erntet der Präsident Respekt für seine Entscheidung, jede Ferntötung persönlich zu verantworten. Mürrische Kritik kommt von Konservativen, die an die Drohnenschläge unter Präsident George W. Bush erinnern und den einst empörten Linken "moralische Amnesie" bescheinigen, so der "Chicago Daily Herald". Nach einer etwas morbide anmutenden Zählung der New America Foundation liegt Barack Obama mit 15 erfolgreichen Drohnen-Attentaten auf Al-Qaida-Führer nur einen Zähler unter Bushs Ausbeute von 16 toten Führern. Die Kriegsführung per Joystick von der CIA-Zentrale in Virginia aus ist zu preiswert und zu erfolgreich, um sie abzulehnen: "Keine Mutter", heißt es, "weint um eine vermisste Drohne."

+++Pakistanische Geheimdienste bestätigen den Tod Al-Libis+++

In Pakistan herrscht nach der neuesten Drohnen-Aktion hingegen Wut. Die Bevölkerung geht wegen der wiederholten Missachtung Washingtons ihrer staatlichen Souveränität auf die Barrikaden - und die sowieso geschwächte Regierung in Islamabad muss mitziehen, um nicht den letzten Rückhalt zu verlieren. Pakistans Außenministerium berief den amerikanischen Vize-Botschafter Richard Hoagland ein, um "ernsthafte Besorgnis" zum Ausdruck zu bringen. Die USA verstießen "gegen internationales Recht und die Souveränität Pakistans".

Auch der Fall Libi zeigt, wie breit die Aktivitäten sind, die al-Qaida in Pakistans Grenzgebieten entfalten konnte. Sein Gesicht tauchte häufiger als alle anderen in den Propagandavideos der Terrororganisation auf. Schließlich war ihm 2005 nach drei Jahren Haft die Flucht aus dem US-Luftwaffenstützpunkt Bagram in Afghanistan gelungen - was ihn innerhalb der al-Qaida zum Helden machte. Der gebürtige Libyer (daher sein Kampfname al-Libi) war lange Zeit ein eher unbekannter Prediger, bevor er, im Alter von 42 Jahren ein Schloss in Bagram knackte und mit drei anderen Häftlingen an den Wächtern vorbei in die Freiheit schlich. Was für die USA die größte Peinlichkeit darstellte, katapultierte Libi in die höchsten Ränge der Terrorhierarchie. Seitdem war er ständig zwischen Pakistans Stammesgebieten und Afghanistan in Bewegung, mit schwarzem Turban verkündete er als Propaganda-Architekt und oberster Theologe die Botschaft des Heiligen Krieges. Die USA hatten ein Kopfgeld von einer Million US-Dollar auf ihn ausgesetzt.

+++Das Terrornetzwerk Al-Qaida+++

Für den pakistanischen Journalisten Rahimullah Yusufzai steht der Tod von Libi für einen blutigen Generationswechsel. "Er war eine der wichtigsten Figuren bei al-Qaida, weil er einer der wenigen alten Kämpfer war, die noch übrig sind", sagt Yusufzai, der als Letzter ein Interview mit Osama Bin Laden führen konnte. Auch wenn die Al-Qaida-Führung in Afghanistan und Pakistan stark dezimiert sei, werde das Terrornetzwerk in seinem Stammland nicht aussterben, meint Yusufzai: "Der Aktionsradius hat sich nach Afrika und in den Nahen Osten verschoben, aber die verbliebenen Führer können hier nicht weg, und hier werden sie immerhin noch von den Taliban geschützt." Dennoch werde sich der Charakter ändern: "Die neue Generation der Al-Qaida-Kämpfer in Afghanistan und Pakistan ist noch radikaler als die Gründer-Riege. Aber sie haben nicht die Kampferfahrung der Veteranen aus Bosnien, Tschetschenien und Afghanistan."

+++Präsident Obama sieht Ära der langen Kriege als beendet an+++

Auch wenn al-Qaida in Afghanistan und Pakistan eine wichtige politische Funktion behalten werde, dürfte sie dort militärisch kaum mehr bedeutsam werden. Das liege auch an einer veränderten Einstellung der Taliban: "Sie stehen zur ihrem alten Versprechen, al-Qaida Zuflucht zu gewähren. Aber die Bereitschaft ihre weltweiten Aktionen zu tragen, ist geschwunden."