Ein Jugendlicher in Tschechien erfand aus Angst vor der Mutter einen Überfall - und bringt durch die Lügengeschichte das Land in Aufruhr.

Breclav. Petr Z. ist ein hübscher Bursche. Blonde Locken umrahmen sein Gesicht, stahlblaue Augen strahlen einem entgegen. Petr ist 15, Schüler und lebt im südmährischen Breclav, unweit der Grenzen zur Slowakei und zu Österreich. Er ist ein Sporttalent, heißt es. Mit dem Sport ist es vorbei. Mit seinem Ruf auch. Und auch der Ruf seiner Freunde ist hin, der seiner Mutter und der großer seriöser Zeitungen in der Hauptstadt Prag. Sie alle haben eine Räuberpistole erzählt, die ganz Tschechien in Aufruhr versetzt hat.

An einem Abend Mitte April will Petr ein paar Freunden zeigen, was er sportlich so draufhat. Im Hausflur eines Plattenbaus turnt er am Treppengeländer. Plötzlich verliert er das Gleichgewicht und stürzt eine Etage tiefer auf das dortige Geländer. Er hätte noch tiefer fallen und bei dem Unglück umsLeben kommen können. Aber auch so hat es ihn heftig erwischt. Petr schleppt sich unter Schmerzen auf die Straße und ruft seine Mutter an.

Die Mutter, eine 42-jährige Dolmetscherin, ist mit ihrer Familie vor13 Jahren aus der Ukraine zugewandert. Sie ist mittlerweile geschieden, ihr Mann ist arbeitslos, zahlt kaum Alimente. Um Petr und dessen Bruder durchzubringen, hält sie die Kinder kurz und gilt als streng. Da Petr fürchtet, dass ihn die Mutter für seinen Übermut bestrafen könnte, erzählt er ihr eine Lügengeschichte: Er sei im Stadtzentrum von drei Roma überfallen worden. Die hätten Zigaretten von ihm gewollt. Als er sagte, dass er keine habe, hätten sie ihn wüst zusammengeschlagen.

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Im Krankenhaus diagnostizieren die Ärzte innere Verletzungen. Sie müssen Petr eine Niere entfernen. Die gequetschte Leber können sie immerhin retten. Die Mutter wendet sich an Polizei und Presse. Vor allem für Letztere ist die Story ein gefundenes Fressen. Seit Jahr und Tag gibt es schlimme Übergriffe von "weißen" Tschechen auf die dunkelhäutigen Roma und Sinti. Molotowcocktails fliegen in armselige Behausungen von Romafamilien.

Derlei erschüttert die Tschechen zwar - zu einem generellen Umdenken in ihrem latent gestörten Verhältnis zu den Roma aber hat es nicht geführt:Roma werden als Nachbarn wenigergelitten denn je, sagen Umfragen.

Sie seien die "Schmarotzer" des Systems. Dass die "Wende" die Roma zu Verlierern gemacht hat, will niemand hören. Die Mehrheit der Roma ist auf Sozialhilfe angewiesen, weil sie keine Arbeit bekommen. Für Hilfsarbeiten stehen einem tschechischen Unternehmer heutzutage billigere und willigere Tagelöhner aus der Ukraine, der Mongolei oder der Slowakei zur Verfügung.

Bürgermeister quartieren Roma aus den Orten an den Rand um und erhalten dafür Beifall. Einer der Bürgermeister wurde für seine "Tatkraft" gar zum Vorsitzenden der Christdemokratischen Partei und zum Senator in Prag gewählt. In Tschechien werden mittlerweile mehrere Hundert Roma-Gettos gezählt.

Die Rechten haben angesichts dessen leichtes Spiel. Seit Monaten etwa gärt es im Schluckenauer Zipfel an der sächsischen Grenze. Angeblich würden Roma die "Weißen" dort massiv terrorisieren. Die Folge: Über Wochenmarschierten die "weißen" Tschechen gegen die Roma auf, versetzten sie in Angst und Schrecken.

Belege für Übergriffe von Angehörigen der Minderheit fanden sich nicht. Doch die Ortsansässigen blieben davon unbeeindruckt. An ihre Spitze stellte sich die rechtsextremistische Arbeiterpartei, nach deren Verbot dann eine Nachfolgeorganisation. Deren Mitglieder brüllen auf ihren Märschen "Zigeuner ins Gas". Der Staat ist machtlos, schickte zwar eine Sondereinheit in die Gegend, aber die Proteste gegen dieRoma flauten nie richtig ab.

Jetzt hatten die Medien eine handfeste Story über einen "wirklichen"Roma-Überfall auf einen hübschen, blonden, tschechischen Jüngling. Wozu noch zusätzlich recherchieren?, fragte man sich in den Redaktionen. Und so fand die Geschichte ungeprüft Eingang selbst in seriöse Qualitätszeitungen.

Dabei hätte ein Anruf bei der Polizei genügt: Die Beamten hatten von Beginn an Zweifel am vermeintlichen Tathergang. Die Berichterstattung wiederum hetzte die Leute richtig auf. An einem Wochenende marschierten aus ganz Tschechien angereiste Rechte zusammen mit aufgebrachten Einheimischen durch Breclav. Die Polizei musste eine Straße, in der ausschließlich Roma leben, vor dem Mob abriegeln.

Petr erholte sich derweil im Krankenhaus und konnte sich einer Welle der Sympathie erfreuen. Ein prominenter Schlagersänger, Michal David, stellte sich auf besondere Weise an die Seite des von wild gewordenen Roma plattgemachten Jungen: Er gab ein Sonderkonzert in Breclav und spendete Petr von den Einnahmen 100 000 Kronen (4000 Euro). Bei der Übergabe am Mittwoch waren reichlich Fotoreporter anwesend. Zur selben Zeit aber hatte die Polizei die Zeugen - die Freunde von Petr - zu einem Test am Lügendetektor vorgeladen. Die hatten bislang dichtgehalten und die Lügenversion Petrs gestützt. Jetzt knickten sie ein und sagten die Wahrheit.

Die Zeitungen am Donnerstag schwenkten ruckartig um. Wie Furien fielen sie über Petr Z. her. "Er hat das ganze Land in Brand gesetzt", so titelte eines der seriösen Blätter.

Eine andere führende Zeitung räumte zumindest zwischen den Zeilen auch eigene Fehler ein: "Hoffen wir, dass sich bei allen etwas ändert - bei dem Jungen, seiner Mutter, den Journalisten, den Demonstranten und bei denen, die wegen persönlicher negativer Erfahrungen mit Roma bereit waren, alles zu glauben. Versuchen wir uns in einer ähnlichen Situation vorzustellen, wie es ist, nur wegen seiner Hautfarbe verdächtigt zu werden."

Der Fall wird Nachspiele haben. Petr und seinen Freunden, die die Unwahrheit sagten, droht eine Anklage. Schlagerstar Michal David will sein Geld zurück. Und mit dem Verhalten der Zeitungen wird sich wohl die Ethik-Kommission des tschechischen Journalistenverbandes befassen. Die ist vom stellvertretenden Chefredakteur der angesehenen Wochenzeitung Respekt, Marek Svehla, angerufen worden.

Er begründete sein Vorgehen damit, dass die Zeitungen gegen grundlegende Regeln des Journalismus verstoßen und auf diese Weise vor allem in Blogs und in sozialen Netzwerken "eine Welle des Hasses" hervorgerufen hätten. "Ein solcher Fauxpas", so Svehla, "darf nie wieder passieren."