Wenn die deutsche Elf bei der EURO 2012 gegen Holland spielt, will die Stadt Charkow in der Ukraine nicht mehr nur wegen Julia Timoschenko in den Nachrichten sein

Die Inszenierung soll perfekt sein. Gennadi Kernes, Bürgermeister der Stadt Charkow und Mitglied der Partei der Regionen, die von Präsident Viktor Janukowitsch angeführt wird, möchte den deutschen Gästen sein Reich zeigen. Zuerst das ganz persönliche: Er führt durch sein Arbeitszimmer, in dem schwarze Engelsfiguren staubfrei glänzen und die Dekoration auf dem spiegelglatten Konferenztisch haargenau in der Mitte steht. Einzig auf seinem Schreibtisch herrscht Chaos: Aktenordner, aufgeschlagene Bücher, lose Zettel und Mappen. Es sieht aus, als habe der Besuch den tief in seine Arbeit versunkenen Bürgermeister zufällig überrascht. Im nächsten Raum, dem Geschenkezimmer, tätschelt Kernes einem ausgestopften Löwen den Kopf und lächelt in die Fernsehkamera des Staatsfernsehens, die schon die ganze Zeit dabei ist. Ein lebendiger Ara kreischt in seinem Käfig, und Kernes erklärt stolz, von welchen Staatsgästen die Figuren im Regal stammen. Dann bittet er hinauf aufs Dach, um den Blick auf die Stadt zu genießen, auf Charkow, den größeren Teil seines Reiches.

Mit staatsmännischer Geste deutet er in die Ferne, wo hinter den goldenen Dächern der orthodoxen Kirchen die Trabantensiedlungen in ihrem eigenen Dunst versinken. Vor jedem Foto nestelt der Kommunalpolitiker am Revers seines Anzugs. Stolz weist er auf eine Baustelle: Dort lasse er das neue Kunstmuseum bauen, das zum Wahrzeichen der Stadt werden soll. Der 1,7-Millionen-Stadt, als deren Architekt er sich begreift, die er auf die Europameisterschaft vorbereitet, in der am 13. Juni die deutsche Nationalmannschaft auf die Niederlande trifft und in der unweit des Stadtzentrums Julia Timoschenko im Kachanowski-Gefängnis eben noch um ihr Leben gekämpft hat.

Darüber mag Kernes aber nicht sprechen. Lieber berichtet er von all den guten und schönen Dingen, die die EURO 2012 so mit sich gebracht hat. Er ist gut vorbereitet, kennt die Berichte deutscher Medien über die überhöhten Hotelpreise und die Studenten, die aus ihren Wohnheimen ausziehen müssen, weil es an Hotelzimmern für die EM-Gäste mangelt. Über die schlechte Infrastruktur und den Gorki-Park, ein Naherholungsgebiet mitten in der zweitgrößten Stadt des Landes, durch den er eine 1,4 Kilometer lange Straße bauen ließ, um dann angrenzende Park-Grundstücke an Privatinvestoren zu verkaufen. Und über die wilden Hunde, die angeblich reihenweise umgebracht würden.

Das stimme alles nicht, sagt Kernes. Er lasse gerade das erste Tierheim für obdachlose Hunde bauen, die Stadt habe sich gewandelt, es seien viele neue Straßen gebaut worden und Charkow sei ja nun nicht die Prärie. Er tue, was nötig sei im Gorki-Park, um finanzstarke Leute in die Stadt zu bringen, alles im Rahmen der Gesetze. Das Wichtigste sei doch, sagt er mit einem Lächeln, "dass die Bedingungen, die wir für Business geschaffen haben, sehr günstig sind".

Die Ukraine vor der EURO 2012 ist ein Land voller Gegensätze. Durch den Geldfluss der Uefa wird die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergetrieben. Die reichlich vorhandenen Hrvna - so der Name der ukrainischen Währung - versickern schneller in den Anzugtaschen korrupter Politiker und Unternehmer als der Regen in der berühmten schwarzen Erde der Bauern. Der Osten des Landes orientiert sich stärker nach Russland als nach Europa, während im Westen die Zugehörigkeit zur EU angestrebt wird. Es gibt die Gegner der EM, die bereits wissen, dass sie nicht an den Geldströmen teilhaben und sich ohnehin keine Tickets leisten können. Sie finden, dass die Investitionen statt in Stadien, Fünf-Sterne-Hotels und Flughäfen besser in soziale und ökologische Projekte geflossen wären oder in die Aufstockung der Renten, die bei vielen Alten gerade mal knapp über 100 Euro betragen. Und es gibt die Befürworter, die sich darüber freuen, dass ihr Land sich Europa präsentiert, die sich auf die Begegnung mit Holländern, Deutschen und Portugiesen freuen und hoffen, dass sich durch die internationale Aufmerksamkeit doch etwas ändert.

Die Ukraine ist ein Land, in dem es kaum unabhängige Medien gibt, an dessen Spitze ein Präsident versucht, seine Rivalin aus dem Weg zu schaffen, indem er sie für einen schlecht verhandelten Gasvertrag mit Russland für sieben Jahre ins Gefängnis steckt. In diesem Land gibt es immer zwei Seiten, zwei Meinungen, egal bei welchem Thema. Die Menschen müssen ständig entscheiden, auf wessen Seite sie sich schlagen wollen, wer sie sein wollen. Und haben sie sich einmal entschieden, vertreten sie ihre Meinung konsequent. Es fällt schwer, glaubwürdige Gesprächspartner zu finden. Die Ukraine vor der EURO 2012 ist ein Land nach der gescheiterten orangenen Revolution vor sieben Jahren, die nichts hinterlassen hat außer Frust und Stagnation.

Im Zentrum von Charkow liegt der Freiheitsplatz, mit etwa 100 000 Quadratmetern einer der größten Plätze Europas. Am westlichen Ende begrüßt eine riesige Lenin-Statue die Fußball-Fans. Denn hier soll die Fanmeile entstehen mit Platz für 75 000 Menschen. Noch ist außer ein paar überdimensionalen Werbebannern der Uefa-Sponsoren nichts zu sehen von Vorfreude auf das große Event. Im Park links vergnügt sich die Charkower Jugend in Freiluft-Spielhallen, Karaokebars und Restaurants. Rechts ragt das Charkiw Palace hervor, das Luxushotel, in dem die Uefa-Delegation residieren wird.

Es gehört dem Oligarchen Alexander Jaroslawskij, Präsident des Fußballklubs Metalist, der nach eigenen Angaben mehr als 200 Millionen Euro in die Vorbereitungen der EM gepumpt hat. Auf sein Konto gehen auch die Umgestaltung des Stadions und der Bau eines neuen Flughafen-Terminals.

Jaroslawskij, einer der 15 reichsten Menschen in der Ukraine, ist beliebt bei den Charkowern. Er setzt Bauarbeiter aus der Region ein, in seiner Fußball-Akademie kann jedes Kind auf neuen Plätzen kicken. "Man muss nicht nur über Probleme sprechen, man muss sie lösen", sagt er beim Gespräch mit den deutschen Besuchern. "Sie können den Fortschritt da draußen sehen. Die Stadt hat sich gewandelt, und vieles wird über die EURO hinaus bestehen bleiben."

Das glauben die wenigsten. Eine halbe Million Touristen besuchen die Ukraine jedes Jahr, die Unterkünfte der Stadt sind nie ausgelastet. Weil erkannt wurde, dass zu viele Hotels sinnlos wären, müssen nun die Studenten für drei Monate weichen. Das Semester wurde extra verkürzt. "Viele Studenten mieten ihr Zimmer für fünf Jahre, renovieren es auf eigene Kosten, und nun müssen sie ausziehen", sagt Jewgenia Belorusets, die gerade ihr Studium abgeschlossen hat. Eine Garantie, dass sie danach in ihre Zimmer zurückkönnen, gibt es nicht, eine Entschädigung auch nicht. Statt in den Ferien in der Stadt zu jobben, müssen die Studenten zu ihren Eltern aufs Land. Jeder muss das Problem für sich allein lösen. In Charkow, wo mehr als 100 000 Studenten leben, sind gerade die Jungen pessimistisch: "Wir haben Angst, dass die Leute herkommen und ein schlechtes Bild bekommen", sagt die Studentin und Sozialarbeiterin Yari Suliman.

Die Probleme sind im Stadtzentrum kaum sichtbar. Auch die Straßen rund um das EM-Stadion, vier U-Bahn-Stationen entfernt, sind frisch asphaltiert, die Gehwege frisch gepflastert, Blumenbeete werden bepflanzt. In Sichtweite stehen allerdings die ersten Plattenbauten. Und mit jeder Straße, die wegführt vom Stadion, werden die Fassaden dreckiger, grauer, die Schlaglöcher in den Straßen tiefer, die Geräte auf den Spielplätzen rostiger. Auf einmal prägen Ladas das Straßenbild, auf einem staubigen Platz sind Marktstände aufgebaut.

Viele der Menschen, die hier leben, haben kleine Gärten, Datschas, teilweise am anderen Ende der Stadt, erklärt Ivan Andrewitsch. Der 84-Jährige, der jeden Tag in eine Einrichtung für alte alleinstehende Menschen geht, trägt Pantoffeln mit einem Playboy-Emblem, sein Jackett passt nicht zur Hose. Durch die Kleingärten sparen die Leute Kosten für Lebensmittel, sagt er. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt in der Ukraine bei rund 220 Euro. Ein Liter Milch kostet im Supermarkt umgerechnet rund 70 Cent, nicht viel weniger als in Deutschland. "Für uns ist die EURO etwas ganz Neues. Wir sind sehr gespannt, wie es wird und was dabei herauskommt", sagt Andrewitsch. "Die Stadt ist schon ein bisschen schöner geworden." Früher hat der alte Mann selbst Fußball gespielt, er würde gerne ins Stadion gehen, aber eine Karte kann er sich unter keinen Umständen leisten.

Viel kritischer urteilt Tetjana Pechonchik, Journalistin und Leiterin des Informationszentrums für Menschenrechte in Kiew: "Wofür braucht die Ukraine die EURO?" Ihr Vater war sein Leben lang Busfahrer und bekommt nun eine Rente von knapp über 100 Euro. "Der Staat ist arm. Man könnte mit dem Geld vieles andere tun", sagt die Aktivistin. Wie sie denken viele.

Die Armut ist nur eines von vielen Problemen. Die intransparente, selbstverliebte Politik, die skrupellose Korruption, mit der die Ukrainer tagtäglich konfrontiert sind, haben nicht nur Politikverdrossenheit ausgelöst. Die Menschen sind frustriert. Wenn sie sich noch engagieren, dann in Umweltgruppen oder Nicht-Regierungs-Organisationen. Die großen Proteste der orangenen Revolution haben zu nichts geführt. Sie mussten erkennen, dass die Interessen ihrer Revolutions-Ikone Julia Timoschenko, selbst Oligarchin, nicht mit den Hoffnungen der Bevölkerung übereinstimmten.

Aber es gibt sie noch, die Protestler. Mitten in der Innenstadt von Kiew haben sie eine kleine Zeltstadt vor dem Gerichtsgebäude errichtet, in dem Timoschenko verurteilt wurde. Es geht ihnen aber nicht mehr um Timoschenko, sondern um die Menschenrechte. Darum, dass sie die Inhaftierung der einstigen Hoffnungsträgerin und die Bedingungen im Gefängnis nicht akzeptieren.

Viele Ukrainer verstehen nicht, dass all die Aufmerksamkeit nur Timoschenko gilt, dass all die anderen Verfehlungen in Fragen der Menschen- und Presserechte unter den Tisch fallen. Und bei allem Pessimismus, bei allem Ärger über die vergebene Chance, durch die EURO das ganze Land wirtschaftlich nach vorne zu bringen und näher an Europa heranzuführen, glauben sie, dass der Fußball etwas Gutes mit sich bringt. Sie hoffen, dass durch die Aufmerksamkeit Europas nicht nur gute Bedingungen für Business geschaffen werden, sondern für das Leben.