China wählt nun offensichtlich doch einen bequemen Weg, einen unbequemen Bürgerrechtler loszuwerden. Chen soll das Land verlassen dürfen.

Peking. Chen Guangcheng wirkt verängstigt, fühlt sich schutzlos seinen Bewachern im Krankenhaus ausgeliefert. „Ich bin in ernster Gefahr“, ruft der blinde Bürgerrechtler am Freitagmittag in einem Telefongespräch mit der Nachrichtenagentur dpa in Peking um Hilfe. „Ich habe das Gefühl, dass die Lage sehr unsicher ist.“ Die Isolation verstärkt sein Gefühl der Bedrohung noch. „Ich kann seit zwei Tagen nicht mit amerikanischen Diplomaten zusammentreffen“, berichtet Chen Guangcheng. „Sie versuchen, ins Krankenhaus zu kommen, aber werden nicht reingelassen.“

Die Strapazen der Flucht, die Ungewissheit und die Drohungen gegen seine Familie zerren an den Nerven. Er fürchtet um die Sicherheit seiner Frau und zwei Kinder. „Gerade wollte meine Frau vor die Tür gehen, um ein paar Dinge zu kaufen, aber sie braucht die Genehmigung von verschiedenen Stellen.“ Von Freiheit keine Spur. Er weiß sich nicht mehr zu helfen, muss Repressalien fürchten. Die Ausreise in die USA ist die letzte Zuflucht: „Bitte verbreiten sie die Nachricht über meine Lage! Bitte!“

Doch nur wenige Stunden nach seinem verzweifelten Hilferuf werden nicht nur US-Diplomaten endlich wieder ins Hospital gelassen – auch erscheint ein Ausweg aus seiner vertrackten Situation möglich. Nach einem Treffen von US-Außenministerin Hillary Clinton mit Chinas Staats- und Parteichef Hu Jintao signalisiert das Außenministerium plötzlich, dass China den unbequemen Bürgerrechtler möglicherweise ausreisen lassen könnte. Er könne „wie jeder andere chinesische Staatsbürger“ einen Antrag zum Studium im Ausland stellen, heißt es.

Der Ton ist merklich anders als zuvor. Auch die Vorwürfe gegen die USA, die ihn auf seiner Flucht vor Verfolgern gerettet und ihm Schutz in der Botschaft gewährt hatten, klingen plötzlich milder. Überraschend verliest selbst das Staatsfernsehen die Erklärung des Außenministeriums, dass Chen Guangcheng über „normale Kanäle“ seine Ausreise vorbereiten könne. Die Propaganda rudert zurück.

Nach Tagen des Schweigens waren die staatlichen Medien am Morgen über Chen Guangcheng hergezogen und hatten eine Schmierenkampagne losgetreten. Er sei zum „politischen Werkzeug böswilliger Kräfte“ geworden, die gegen das politische System in China arbeiteten. „Chen Guangcheng kann nicht die Mehrheit repräsentieren, sondern nur die Interessen antichinesischer Kräfte im Westen, die hinter ihm stehen“, schreiben mehrere Blätter.

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Doch am Nachmittag gibt sich China wieder großzügig, präsentiert sich demonstrativ als Rechtsstaat, der niemanden an der Ausreise hindern will. Doch noch kann der Bürgerrechtler nicht ausreisen. Noch hat er keine Pass – auch nicht für seine Frau und zwei Kinder. Doch mit seiner Aussage, nicht Asyl beantragen, sondern zum Studium in die USA zu wollen, hat er der chinesischen Führung geholfen, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, mit dem sie ihr Gesicht wahren kann.

„Es wäre das Schlimmste und Dümmste, wenn die chinesische Regierung ihn an der Ausreise hindern würde“, sagt der Professor der Volksuniversität, Cheng Xiaohe. Er ist daher überzeugt, dass China die Zusage einhalten wird. „Chinas Regierung kann eine Last abwerfen“, sagt der Professor. Er sieht auch keinen Schaden für die Beziehungen. „China und die USA sind nicht vom Kurs abgekommen“, sagt der Experte für internationale Beziehungen. „Es ist ein gutes Beispiel für Zusammenarbeit – ein seltenes Beispiel, von denen es in Zukunft aber mehr geben wird“, glaubt er.

Auch US-Außenministerin Clinton wird am Ende ihres schwierigen Verhandlungstages philosophisch, sieht eine neue Kooperation. Der Aufstieg einer neuen Macht wie China müsse nicht zwingend zum Konflikt mit einer existierenden Großmacht wie den USA führen: „Wir sehen es als Gelegenheit, nicht als Bedrohung“, sagt Clinton. Sie plädierte für ein Umdenken in der globalisierten Welt: „Wir glauben, dass es sich keiner von uns leisten kann, die Welt durch eine alte Brille zu betrachten.“(dpa)