Nach dem Zwischenfall auf den Golanhöhen an der Grenze zu Syrien werden neue Palästinenser-Aufmärsche befürchtet. Armee räumt Fehler ein.

Jerusalem. Kaum war der erste Schock verwunden, begannen die Schuldzuweisungen. Wie konnten rund 100 in Syrien lebende Palästinenser am Sonntag kurzerhand die Grenze zu den von Israel seit 1967 besetzten Golanhöhen überqueren?, fragten die israelischen Medien am Tag danach. Israelische Soldaten hatten am Sonntag mehrere Palästinenser erschossen, die die Grenzzäune überrannt hatten.

Die Armeeführung verwies auf die mangelhafte Arbeit des Militärgeheimdienstes. Dort wiederum wollte man entsprechende Warnungen ausgesprochen haben, nur seien die von Befehlshabern in den Wind geschlagen worden, die offenbar nicht an die Gefahr glauben wollten. Anscheinend war niemand auf die Idee gekommen, die Führung des Landes könne am Nakba-Tag, an dem die Palästinenser ihrer Flucht und Vertreibung im Krieg von 1948 gedenken, wichtigere Dinge zu tun haben. Schließlich räumte sogar Generalstabschef Benny Ganz Fehler ein und ordnete eine Untersuchung des Vorfalls an.

Gerade mal 30 bis 40 Soldaten sollen am Sonntag auf den Golanhöhen stationiert gewesen sein, die langfristig geplante Demonstration von etwa 1000 Palästinensern auf der syrischen Seite der Grenze wurde von fünf Soldaten in zwei Jeeps beobachtet. Tränengas, Wasserwerfer oder andere Hilfsmittel, mit denen man Menschenansammlungen auflösen kann, ohne dabei gleich ein Blutbad anrichten zu müssen, standen nicht zu ihrer Verfügung. Die Soldaten durften nicht ohne den ausdrücklichen Befehl ihres Kommandanten das Feuer eröffnen. Erst als die über die Grenze stürmenden Demonstranten die Jeeps umzingelt hatten, gab der Kommandeur den Befehl, auf die Beine der Eindringlinge zu schießen. "Mir wurde klar, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte und dass wir etwas tun mussten, bevor 10 000 Eindringlinge sich auf den Weg nach Madschdal Scharms machten", sagte der durch einen Stein am Kopf verwundete Oberst am Sonntagabend. Daraufhin seien alle Demonstranten auf der syrischen Seite der Grenze geflohen. Die 70 Palästinenser, die es bereits auf die israelische Seite geschafft hatten, durften von der Armee ungestört einige Stunden auf dem Marktplatz mit syrischen Flaggen und Bildern von Präsident Assad demonstrieren, ehe sie von den drusischen Dorfältesten zu Bussen geleitet wurden, die sie an die Grenze brachten.

Bei einem Zwischenfall an der israelisch-libanesischen Grenze gab es am Sonntag widersprüchlichen Angaben zufolge zwischen drei und elf Toten. Erste Untersuchungen der israelischen Armee kommen aber zu dem Schluss, für den Vorfall sei zumindest zum Teil die libanesische Armee verantwortlich, die Augenzeugen zufolge ebenfalls das Feuer eröffnet hatte.

Doch mehr noch als um die Schuldfrage sorgt man sich in Israel darum, der Marsch nach Madschdal Scharms könne zum Präzedenzfall werden. Das Land habe ein grundlegendes Problem, schreibt Alex Fischmann in der Zeitung "Jedioth Achronoth": "Abgesehen von Abschreckung gibt es keine Möglichkeit zu verhindern, dass Zehn- oder Hunderttausende gut organisierte Palästinenser, die das Rückkehrrecht (für die palästinensischen Flüchtlinge) mit ihren eigenen Füßen verwirklichen wollen, die Grenze überqueren." Auch das Konkurrenzblatt "Maariv" fürchtet, man habe "nur einen Vorgeschmack auf das bekommen, was wahrscheinlich im September" geschehen werde, sollten die Palästinenser im Westjordanland dann tatsächlich einseitig einen Staat ausrufen. Und die auflagenstarke Gratiszeitung "Israel HaJom" fürchtet die Entstehung eines "neuen palästinensischen Mythos". Die Armee müsse sofort damit beginnen, sich auf weitere Massenaufmärsche vorzubereiten.

Tatsächlich scheint die Erkenntnis, dass sich mit überwiegend gewaltlosem Widerstand durchaus etwas erreichen lässt, auch ein Resultat der Revolutionswelle in der arabischen Welt zu sein. Dabei sieht es momentan nicht so aus, als ob die Wucht dieser Revolutionen und der aufgestaute Volkszorn sich nun gegen Israel wenden würde: Die Demonstranten sowohl an der syrischen als auch an der libanesischen Grenze waren Palästinenser. Während es an Israels Grenzen gestern ruhig blieb, gingen ägyptische Sicherheitskräfte vor der israelischen Botschaft in Kairo mit Tränengas und Gummigeschossen gegen Tausende Demonstranten vor, die versuchten, das Gebäude zu stürmen. 50 verletzte Demonstranten mussten im Krankenhaus behandelt werden, etwa 150 wurden festgenommen.