US-Physiker halten neue Abfangraketen für unzuverlässig

Hamburg/New York. Im September vergangenen Jahres kündigte US-Präsident Barack Obama ein neues strategisches Konzept für Amerika an. Der Plan einer drastischen Reduzierung des nuklearen Raketenarsenals der USA - inzwischen mit Russland vertraglich festgezurrt - und der Abwehr feindlicher Raketen, etwa aus dem Iran, basierte vor allem auf dem Funktionieren einer neuen Generation von Abwehrraketen. Obama bezeichnete diese neue Waffentechnik als "getestet und effektiv". Doch daran sind jetzt ernsthafte Zweifel geäußert worden - womit das ganze strategische Konzept auf dem Prüfstand steht.

Die positive Einschätzung des US-Präsidenten beruhte auf einem Bericht des Pentagons über eine zehnteilige Testreihe mit der neuen Abwehrrakete in den Jahren 2002 bis 2009. Die Tests seien gelungen, die Ziele - anfliegende Raketen - seien zu 84 Prozent zerstört worden, hatte es im Report des Verteidigungsministeriums geheißen.

Doch nun haben zwei Physiker der renommierten Universitäten MIT und Cornell, Dr. Theodore A. Postol, und Dr. George N. Lewis, diese Testberichte einmal näher untersucht - und sind zu einem alarmierenden Ergebnis gekommen. Die "New York Times" zitierte aus dem Bericht der Wissenschaftler, dass die neue Abwehrrakete "Standard Missile 3" (SM-3) tatsächlich nur in einem Fall, höchstens in zwei Fällen wirklich erfolgreich gewesen sei.

Hintergrund ist, dass die SM-3 die anfliegende Feindrakete allein mit kinetischer Energie zerstört. Dazu muss sie aber den Sprengkopf der Rakete direkt treffen. Das Pentagon selber hat den komplizierten Vorgang damit verglichen, eine Gewehrkugel im Flug mit einer Gewehrkugel treffen zu wollen. Die SM-3 visiert ihr durch den Weltraum anfliegendes Ziel an und lenkt sich computergesteuert näher heran. In den meisten Tests traf die SM-3 zwar den Raketenkörper, nicht aber den Sprengkopf. Nach Ansicht der Kritiker habe sie damit ihre Aufgabe nicht erfüllt - die anfliegende Atomrakete werde zwar vom Kurs abkommen, aber dennoch einschlagen.

"Das System ist hochgradig empfindlich und anfällig und würde anfliegende Sprengköpfe allenfalls durch Zufall treffen - wenn überhaupt", sagte Postol, ein ehemaliger wissenschaftlicher Berater des Pentagons. Dessen Raketenabwehrabteilung Missile Defense Agency kritisierte den Bericht der beiden Physiker, der unter dem Titel "Ein fehlerhafter und gefährlicher US-Raketenabwehrplan" in der Mai-Ausgabe der Fachzeitschrift "Arms Control Today" abgedruckt wird. "Die Behauptungen sind falsch", erklärte Sprecher Richard Lehner. Allerdings musste das Pentagon bei dieser Gelegenheit kleinlaut einräumen, dass vier der zehn Tests ganz ohne Übungs-Sprengköpfe auf den anfliegenden Raketen absolviert wurden; was die Zuverlässigkeit der Ergebnisse zusätzlich infrage stellt.

Obama bekommt damit auch ein innenpolitisches Problem: Als Senator und Präsidentschaftskandidat hatte er Raketenabwehrsysteme noch vehement als unzuverlässig kritisiert.

Der demokratische Kongressabgeordnete und Ausschussvorsitzende John F. Tierney sagte, der Bericht werfe "ernsthafte Fragen" auf. Der US-Kongress werde sich das näher ansehen, denn die US-Bürger hätten ein Recht zu erfahren, ob das, wofür sie ihre Steuerdollars hergeben, auch funktioniere.