Jerusalem. Ist die Justizreform das Ende der Demokratie? Oder haben Richter zu viel Macht? Wir haben Israelis gefragt. Ihre Antworten erstaunen.

Seit einem halben Jahr streitet ganz Israel über eine Frage: Ist die geplante Justizreform das Ende der Demokratie, oder führt sie das Land in bessere Zeiten? Hunderttausende demonstrieren jede Woche gegen den Plan der Regierung, das Höchstgericht zu entmachten. Wir haben zwei Befürworter und zwei Gegner der Justizpläne gefragt, was sie bewegt.

Yaniv David (16) : „Die Gerichte schaffen irgendwie indirekt mein Wahlrecht ab“

Die Macht der Gerichte geht zu weit, glaubt Yaniv David aus Rehovot nahe Tel Aviv. Der 16-Jährige ist überzeugt, dass die Justizreform der Regierung unter Benjamin Netanjahu nichts weiter ist als die Korrektur einer Fehlentwicklung. „Es kann doch nicht sein, dass es eine Macht im Staat gibt, die einfach Gesetze kippen kann“, sagt Yaniv, der streng-religiös ist und eine Thoraschule besucht.

Yaniv David geht die macht des Gericht zu weit.
Yaniv David geht die macht des Gericht zu weit. © Maria Sterkl

Er bezieht sich auf den Obersten Gerichtshof in Jerusalem. Dieses Höchstgericht ist nicht nur die letzte Instanz für Einsprüche gegen Urteile einfacher Gerichte, sondern hütet auch über die Einhaltung der Grundgesetze. Sollte die Regierung mit ihrer Parlamentsmehrheit etwas beschließen, das einem Grundgesetz widerspricht, kann das Höchstgericht das wieder aufheben. Genau das stört Yaniv. „Ich gehe ins Wahllokal und wähle, die Abgeordnete, und diese Politiker treffen Entscheidungen, die dann vom Gericht einfach abgeschafft werden? Damit schaffen sie doch auch irgendwie indirekt mein Wahlrecht ab.“

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Das Argument der Reformgegner, dass die Gerichte die Bürger vor dem Machtmissbrauch der Regierung schützen, kann Yaniv wenig abgewinnen. „Sagen wir mal, die Regierung entscheidet, dass ab heute alle Rothaarigen ins Gefängnis kommen – dann wird doch das ganze Land dagegen protestieren, oder? Dafür brauche ich kein Gericht, das mir sagt, was richtig ist und was falsch.“

Yael Shmueli (57): „Solange die Soldaten protestieren, haben wir eine Chance“

„Ich demonstriere, so oft ich kann“, sagt Yael Shmueli, eine Israelin mit libysch-tunesischen Wurzeln, die nahe dem See Genezareth lebt und dort Managerin einer Klimaanlagenfirma ist. „Diese Regierung will uns alle den religiösen Gesetze unterordnen.“ Für Frauen sei das besonders gefährlich: „Sie wollen, dass nicht mehr die Gerichte über Fürsorgestreit entscheiden, sondern Rabbinergerichte, von denen ja bekannt ist, wie frauenfeindlich sie sind.“

Yael Shmueli demonstriert so oft sie kann gegen die Reform der Justiz.
Yael Shmueli demonstriert so oft sie kann gegen die Reform der Justiz. © Maria Sterkl | Maria Sterkl

Die 57-Jährige glaubt, dass Netanjahus Regierung Israel dorthin treiben will, wo Ungarn und Polen heute stehen. „Er will die Balance zwischen den Gewalten im Staat zerstören.“ Sie ist überzeugt: „Die Regierung treibt einen Keil in die Gesellschaft“, und das Traurige sei, „der Riss geht quer durch die Familien“, sagt die Mutter von vier Kindern.

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„Mein Mann sagt immer, ach komm, so schlimm wird das schon alles nicht werden.“ Sie sieht das ganz anders. „Hoffnung gibt mir der Protest der Reservisten“, sagt Shmueli, die in der Armee Kommandantin einer Panzerbrigade war. „Das unterscheidet uns von Ungarn und Polen: Dort hat die Regierung trotz Demonstrationen gemacht, was sie will. Solange bei uns die Soldaten protestieren, haben wir eine Chance, dass noch nicht alles verloren ist.“

David Levy (80): „Diese Proteste richten doch nur Schaden an“

Wenig Begeisterung für die Demonstrationen gegen die Justizreform hat der 80-jährige David Levy. „Diese Proteste richten doch nur Schaden an“, meint Levy. „Darunter leiden dann die Polizisten, und alle Leute, die nichts anderes wollen als schnell nach Hause zu kommen und dann stundenlang in der Autobahnblockade feststecken.“ Levy ist damit einverstanden, dass die Macht der Justiz eingeschränkt wird.

David Levy hat über Richter keine gute Meinung.
David Levy hat über Richter keine gute Meinung. © Maria Sterkl

Von Richtern hat er keine gute Meinung. „Sie wollen über alles entscheiden und versorgen ihre besten Freunde mit Jobs“, glaubt er. Daher sei es gut, wenn Gerichte künftig weniger zu sagen haben. Levy ist als Sohn jüdischer Eltern in Marokko geboren und mit 12 Jahren nach Israel eingewandert. Sein ganzes Erwachsenenleben lang hat er Netanjahus Partei und dessen konservative Vorgängerparteien gewählt.

Nun überlegt er aber, nächstes Mal gar nicht mehr zu wählen. Zwar ist er für die Justizreform, „aber für diese Regierung bin ich nicht.“ Warum? „Sie verwöhnen die Ultraorthodoxen, die in ihrem ganzen Leben überhaupt nichts tun, die einfach nur ruhig dasitzen und dafür Geld bekommen. Sie benutzen diese Regierung als Geldautomat“.

Yehuda Ginosar: „Die Regierung will alle Macht im Staat in ihre eigenen Hände bringen“

Aus Protest gegen die Regierungspläne zur Entmachtung der Justiz hat sich Yehuda Ginosar, ein Anästhetist aus Jerusalem, dem Ärztestreik angeschlossen. In Kliniken und Krankenhäusern wurden nur Notfälle behandelt, nicht dringende Fälle wurden abgewiesen. „Für unsere Patienten heute ist das ein kleiner Einschnitt. Aber für die Patienten der Zukunft ist dieser Streik das einzig Sinnvolle, das wir tun können“, sagt Ginosar.

Yehuda Ginosar fürchtet Konsequenzen für seine Patienten.
Yehuda Ginosar fürchtet Konsequenzen für seine Patienten. © Maria Sterkl

„Wenn man das Höchstgericht entmachtet, liegt alle Macht über gesundheitspolitische Entscheidungen nur noch bei der Regierung. Wo werden Spitäler gebaut? In welche medizinische Forschung wird investiert? Behandeln wir Juden, Araber, Männer und Frauen, Heteros und Schwule mit derselben Sorgfalt? All diese Entscheidungen werden jetzt von Gerichten kontrolliert“, sagt der 63-Jährige. „Wenn das wegfällt, kann jeder Minister oder hohe Beamte entscheiden, dass zum Beispiel seine Freunde besser behandelt werden als andere, und niemand kann es mehr überprüfen.“

Die gesamte Justizreform habe nur ein einziges Ziel: „Die Regierung will alle Macht im Staat in ihre eigenen Hände bringen.“ Ginosar bezeichnet sich selbst als „religiösen jüdischen Zionisten“. Ihn stört, dass „diese Regierung auf sehr aggressive Weise ein extrem kontroversielles Programm durchzieht, ohne irgendeinen Versuch des Dialogs“. Das Argument der Regierung, dass die Justiz von einer linken Elite dominiert sei, bringt Ginosar zum Lachen. „Dieses Land wird praktisch seit 40 Jahren von rechten Parteien regiert. Sie können also niemandem weismachen, dass es eine linke Elite gibt, die das Land beherrscht.“

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