Ankara. In der Türkei geht ein von Hetze und Hassparolen überschatteter Wahlkampf zu Ende. Nun könnte das Land vor einer Zeitenwende stehen.

Elf Jahre lang war Recep Tayyip Erdogan Regierungschef, 2014 wurde er Staatsoberhaupt, und seit 2018 führt er die Türkei mit einer Machtfülle, wie sie kein anderer Staatschef eines westlichen Landes besitzt. Was kommt als nächstes? „Es würde mich nicht wundern, wenn er sich bald zum Propheten erklärt“, sagte diese Woche Meral Aksener, die Vorsitzende der oppositionellen IYI-Partei.

Premier, Präsident, bald vielleicht Prophet – er empfange seine Befehle von Allah, sagt Erdogan auch selbst. Für seine Anhänger ist der 69-Jährige immer schon eine Lichtgestalt. Aber für viele andere hat er seine Strahlkraft verloren. Bei der Wahl am Sonntag kämpft Erdogan um eine dritte Amtszeit als Präsident und um eine Mehrheit für seine Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei, die AKP, im nächsten Parlament.

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„Der richtige Mann zur richtigen Zeit“ steht neben Erdogans Porträt auf den riesigen Plakaten, die in den türkischen Städten ganze Häuserfronten bedecken. Aber noch nie schien ein Ende der 20-jährigen Ära Erdogan so nah wie jetzt. Die meisten Meinungsforscher erwarten bei der Präsidentenwahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdogan und seinem sozialdemokratischen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, der als gemeinsamer Kandidat von sechs Oppositionsparteien antritt.

Erdogan-Herausforderer Muharrem Ince wirft das Handtuch

Eine am Donnerstag veröffentlichte Umfrage des Instituts Konda sieht Kilicdaroglu mit 49,3 Prozent deutlich vor Erdogan, der bei der Befragung auf 43,7 Prozent kam. Doch die Umfrage erscheint bereits überholt, denn am Donnerstagnachmittag erklärte einer der vier Präsidentschaftskandidaten, Muharrem Ince, seinen Rückzug aus dem Rennen. Der Rücktritt folgte auf Korruptionsvorwürfe und ein angebliches Sex-Video, dessen Echtheit Ince allerdings bestreitet. Sein Verzicht könnte vor allem Kilicdaroglu nützen.

Die Wahl findet vor dem Hintergrund einer schweren Wirtschaftskrise statt. Die Hyperinflation treibt immer mehr Familien in die Armut. Den Ausschlag könnten die fünf Millionen Erstwähler und die Anhänger der pro-kurdischen Partei HDP geben. Sie stellen zusammen fast 18 Prozent der Wahlberechtigten. In der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen kommt Erdogan laut einer Untersuchung des Instituts Metropoll nur auf einen Stimmenanteil von 30, Kilicdaroglu dagegen auf über 50 Prozent. Die HDP bekam 2018 5,8 Millionen Stimmen, verzichtete diesmal auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten und rief ihre Anhänger dazu auf, für Kilicdaroglu zu stimmen.

Muharrem Ince gestikuliert, als er seinen Rücktritt von der größten türkischen Oppositionspartei CHP neben einem Poster des Gründers der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, bekannt gibt.
Muharrem Ince gestikuliert, als er seinen Rücktritt von der größten türkischen Oppositionspartei CHP neben einem Poster des Gründers der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, bekannt gibt. © dpa | Uncredited

Für Erdogan ist dies die alles entscheidende Wahl. Gewinnt er sie, kann er seine Macht weiter zementieren. Die Türkei läuft dann Gefahr, in eine Diktatur abzugleiten. Verliert Erdogan, müssen er und sein Clan fürchten, wegen Korruption und Machtmissbrauch angeklagt zu werden. Entsprechend erbittert wurde dieser Wahlkampf geführt. Erdogans Verbündeter Devlet Bahceli, Vorsitzender der neofaschistischen Partei MHP und Chef der berüchtigten Grauen Wölfe, beschimpfte Oppositionspolitiker als „Verräter“ und drohte ihnen, sie bekämen „entweder lebenslange Haftstrafen oder Kugeln in ihre Körper“.

Angriff auf den Bürgermeister Istanbuls – Erdogan verteidigte Täter

Einen Vorgeschmack bekam Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu, als er diese Woche im osttürkischen Erzurum Wahlkampf für Kilicdaroglu machte. AKP- und MHP-Anhänger empfingen ihn mit Steinwürfen. Zahlreiche Menschen wurden verletzt. Die Polizei sah untätig zu. Erdogan verteidigte die Angreifer: Imamoglu habe sie „provoziert“.

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Noch nie war die Türkei so polarisiert wie in diesem Wahlkampf. Erdogan hetzte gegen Schwule, Lesben und Transgender-Menschen. Diesen „Perversen“, wie er sie nennt, werde man nach der Wahl „eine Lektion erteilen“. Ihnen könnte nach einem neuerlichen Erdogan-Sieg ein Pogrom drohen. Derweil kursieren im Internet Videos, in denen ein bekannter ehemaliger Erdogan-Vertrauter von einer Milliarden-Dollar-Provision berichtet, die Erdogan bei der Vergabe einer Flughafen-Konzession kassiert haben soll.

Sollte Präsident Erdogan die Wahl verlieren, will sein Herausforderer vorerst auf große Feiern verzichten, um dessen Anhänger nicht zu provozieren.
Sollte Präsident Erdogan die Wahl verlieren, will sein Herausforderer vorerst auf große Feiern verzichten, um dessen Anhänger nicht zu provozieren. © dpa | Emrah Gurel

Der ehemalige Confidant berichtet auch von einer stillen Beteiligung des Erdogan-Sohns Bilal an einem Bauunternehmen, das große Staatsaufträge bekommt. Im jüngsten Enthüllungs-Video geht es um eine geheim gehaltene chronische Krankheit Erdogans. Die Oppositionspolitikerin Aksener forderte Erdogan öffentlich auf, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Doch der Präsident schweigt.

Sorge vor Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung wächst

Dass Erdogan ein schlechter Verlierer ist, zeigte sich schon 2019. Bei der damaligen Kommunalwahl eroberte die oppositionelle CHP die Rathäuser in mehreren bis dahin von der AKP regierten Großstädten, darunter Ankara und Istanbul. Dort gewann der CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu mit 13.000 Stimmen Vorsprung gegen Erdogans Bewerber Binali Yildirim. Der Verlust der Bosporusmetropole wurmte Erdogan besonders, weil er dort in den 1990er Jahren als Bürgermeister seine Karriere begonnen hatte. Auf Betreiben Erdogans annullierte die Wahlbehörde das Ergebnis und setzte eine Neuwahl an. Die gewann wiederum Imamoglu – diesmal mit 800.000 Stimmen Vorsprung. Das war Erdogans erste große Niederlage.

Jetzt wächst bei der Opposition die Sorge vor Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung am Sonntag. Wie das aussehen könnte, zeigte sich bei den Kommunalwahlen 2014: In Ankara führte am Wahlabend der Oppositionskandidat. Dann stoppte die Wahlbehörde YSK die Bekanntgabe von Auszählungsergebnissen. Als sie mehrere Stunden später wieder aufgenommen wurde, lag plötzlich der Regierungskandidat vorn.

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Jetzt lässt ein Vorfall im fernen Australien aufhorchen. Dort lebende türkische Staatsbürger konnten bereits seit dem 27. April ihre Stimme abgeben. Die Wahlberechtigten erhalten einen amtlichen Wahlzettel, auf dem alle Parteien verzeichnet sind. In der Wahlkabine markieren sie dann mit einem kleinen Stempel die Partei ihrer Wahl. In einem Wahllokal in Sydney stellte ein Wähler überrascht fest, dass der ihm ausgehändigte Wahlzettel bereits für die Erdogan-Partei AKP abgestempelt war. Kein Einzelfall: 720 Wahlzettel waren bereits vorab so präpariert worden – mutmaßlich von Erdogan-Anhängern.

Innenminister Süleyman Soylu vergleicht die Wahl mit einem „Putschversuch des Westens“. Das wirft die Frage auf, ob Erdogan eine Wahlniederlage überhaupt akzeptieren und freiwillig abtreten würde. Der Oppositionskandidat Kilicdaroglu warnt vor Provokationen am Wahlabend und „bewaffneten Gruppen“. Er beschwört seine Anhänger: „Niemand sollte auf die Straße gehen und feiern, wenn wir gewinnen. Alle sollten in ihren Wohnungen bleiben.“

WahlTürkei-Wahl 2023
(Stichwahl)
DatumSonntag (28. Mai 2023)
OrtTürkei
Gewählt wirdPräsident
Wahlberechtigt sindRund 64 Millionen Menschen
Kandidaten für PräsidentenamtRecep Tayyip Erdoğan (69) und Kemal Kılıçdaroğlu (74)

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