Tel Aviv. Avi Hassner wurde am Tag der Staatsgründung Israels geboren. Am 14. Mai wird er 75. Er blickt auch mit Wut auf Gründervater Ben Gurion.

Als Avi Hassners Mutter mit ihm in den Wehen lag, mischten sich ihre Schmerzschreie mit dem Knall von Schüssen. Der Wagen raste zum nächstgelegenen Krankenhaus und musste dabei ein palästinensisches Dorf passieren. Die Palästinenser eröffneten das Feuer auf das Auto. „Zum Glück war der Wagen gepanzert“, erinnert sich Avi Hassner. Mutter und Baby überstanden den Angriff und die Geburt unbeschadet.

Am 14. Mai 1948 kam der kleine Avi auf die Welt, und von Washington bis Tokio blickte an jenem Tag alles nach Tel Aviv. Dort wurde an jenem Tag nämlich nicht nur Baby Avi geboren, sondern gleich ein ganzer Staat. Ministerpräsident David Ben Gurion verkündete die Unabhängigkeit Israels. Wenn Hassner seinen Geburtstag feiert, feiert ganz Israel mit ihm. Dieses Jahr ist es ein besonderes Fest: der 75. Geburtstag.

Hassner ist nicht nur genauso alt wie der Staat, in dem der erfolgreiche Arzt und frühere Krankenhausmanager lebt und in dem seine drei Kinder aufgewachsen sind. Vieles in seiner eigenen Biografie spiegelt die Geschichte des Landes wider. Die Eltern waren vor den Nazis in Europa nach Palästina geflüchtet. Es waren deutschsprachige Juden aus Rumänien. Bis zum heutigen Tag versteht Hassner Deutsch. Es war die erste Sprache, die er lernte – noch vor Hebräisch, der Sprache seiner Heimat.

Großvater starb bei einem NS-Massaker in heutiger Ukraine

Alle, die nach Israel einwanderten, ob aus Europa, aus Nordafrika oder Jemen, brachten ihre Wurzeln mit. So auch Hassner: Sein Großvater Abraham Jakob Mark war langjähriger Oberrabbiner der jüdischen Gemeinden in der Bukowina im heutigen Rumänien. Er war auch ein führender Kämpfer für den Zionismus, für einen sicheren Hafen für die Juden in der Welt. Den Sieg der zionistischen Bewegung sollte er nicht mehr miterleben. Am 9. Juli 1941 starb Mark im Kugelhagel eines NS-Massakers in Czernowitz in der heutigen Ukraine – sieben Jahre vor der Gründung Israels und vor der Geburt seines Enkels Avi.

Avi Hassner wird am 75. Unabhängigkeitstag Israels 75 Jahre alt.
Avi Hassner wird am 75. Unabhängigkeitstag Israels 75 Jahre alt. © Privat | Privat

Hassners Kindheit war von den ersten Schritten des jungen Staates Israel geprägt. Er wuchs in einer Gemeinde von Shoa-Überlebenden auf, sein Vater war Arzt, die Mutter Assistentin in der Arztpraxis. „Der Zusammenhalt war sehr stark“, sagt er. Nicht nur die Gemeinsamkeit der Erinnerung an den Holocaust, auch die Bedrohung in der neuen Heimat schweißte zusammen. „Viele vergessen das heute, aber im Unabhängigkeitskrieg kam ein Prozent unserer Bevölkerung ums Leben. Dieses Opfer wird von den Menschen heute viel zu wenig wertgeschätzt“, glaubt Hassner.

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Krieg folgte auf Krieg, als Hassner in einer kleinen Stadt Gedera südlich von Tel Aviv heranwuchs. Als er selbst alt genug war, um in der Armee zu dienen, brach der Sechs-Tage-Krieg von 1967 aus. Die Opferzahl war hoch, 15 israelische Soldaten gerieten in Kriegsgefangenschaft, aber das Land war in Jubelstimmung: Israel konnte mit Gebietseroberungen seine Fläche verdreifachen und unter anderem Ostjerusalem von jordanischer in israelische Kontrolle übertragen. „Es war ein triumphaler Moment“, erinnert sich Hassner.

Avi Hassner: Kreislauf des Blutvergießens muss ein Ende haben

Immer noch überzieht ein Strahlen sein Gesicht, wenn der 75-Jährige von seinem ersten Besuch bei der Klagemauer erzählt, die Juden bis dahin nicht zugänglich gewesen war. „So viele Menschen strömten dorthin, um die Mauer zu besuchen – man konnte kaum atmen. Aber es war ein berauschender Moment.“ Im Rausch fällt es schwer, die Dinge klar zu sehen. „Heute, im Rückblick, muss ich sagen: Es war ein Fehler, dass wir die Gebiete besetzt haben. Aber im Rückblick ist man immer klüger.“Warum es ein Fehler war? „Man kann nicht über ein Volk herrschen, das nicht von uns beherrscht werden will.“

Avi Hassner mit 6 Jahren: Er wuchs in einer kleinen Stadt bei Tel Aviv auf.
Avi Hassner mit 6 Jahren: Er wuchs in einer kleinen Stadt bei Tel Aviv auf. © Privat | Privat

Hassner meint damit die Palästinenser. „Der Kreislauf des Blutvergießens wiederholt sich dauernd.“ Es gebe nur einen Weg, ihn zu durchbrechen: „Beide Seiten müssen einsehen: Wir können die Palästinenser nicht bezwingen, und die Palästinenser können uns nicht vertreiben.“ Am Ende sei der einzige Weg eine friedliche Lösung – und auch ein Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten.

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Groß ist seine Hoffnung nicht, dass das passieren wird. „Auf alle Fälle nicht mit dieser Regierung“, sagt Hassner. Würden seine Eltern heute aus ihren Gräbern aufstehen und sehen, wie sich das Land, das sie mitgegründet haben, verändert hat, „dann wären sie erschrocken und entsetzt“, glaubt Hassner. „Als ich aufwuchs, gab es Werte, die allen wichtig waren: Arbeit und Zusammenhalt. Heute ist das anders.“ Das Land sei tief gespalten und Arbeit sei kein Wert mehr – zumindest für einen Teil der Bevölkerung.

Ultraorthodoxe Juden machen Hassner wütend: „Sie arbeiten nicht“

„Die Ultraorthodoxen arbeiten nicht, sie gehen nicht zum Militär, sie lesen nur den ganzen Tag die Bibel und lassen sich dafür bezahlen – auch mit den Steuern, die ich bezahle.“ Hassner macht das wütend. „Das ist wie ein Stich ins Auge.“ Dass es für Ultraorthodoxe heute de facto eine Ausnahme von der Militärpflicht gibt, geht auf einen Kompromiss zurück, den bereits Staatsgründer David Ben Gurion eingegangen war.

Um zu verhindern, dass die Strengreligiösen den neuen Staat und seine Regierung nicht akzeptieren, kam er ihnen entgegen. Damals handelte es sich aber um ein paar Hundert Menschen – heute sind es bereits 13 Prozent der Bevölkerung, die laut Hassner „vom Staat nur nehmen und ihm nichts zurückgeben“. Ben Gurion habe Großes geleistet für diesen Staat, sagt Hassner. „Aber in diesem Punkt hat er leider einen Fehler gemacht.“

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