Isjum. Ukraine-Krieg: Monatelang lag Isjum bei Charkiw unter Granatenbeschuss. Überlebende erzählen, wie sie in den Alltag zurückfinden.

Es sind müde Augen, erschöpft und ohne Glanz. Die Augen eines Menschen, der zu viel gesehen, zu viel erlebt hat. Der 52-jährige Jurij Kusnetsow ist Arzt am städtischen Krankenhaus von Isjum, jener Kleinstadt bei Charkiw im Osten der Ukraine. Hier verlief die Front. Erst eroberten russische Truppen die Stadt, dann kam die ukrainische Armee zurück. Und immer Bomben, Raketen, Granaten. Tag und Nacht. Und immer traf es die Menschen, die hier leben.

"Von März bis Juni hatten wir über 400 schwer Verwundete, einige konnten wir nicht mehr retten, die meisten davon wurden am Kopf verletzt", erzählt der Arzt. Rund um die Uhr war Kusnetsow im OP. Er erzählt von diesen Tagen, manchmal zögert er. "Das Schwerste war, dass ich die meisten von denen, die wir nicht retten konnten, persönlich gekannt habe."

Ihm selbst habe die Arbeit im Krankenhaus wohl das Leben gerettet, sagt der Arzt. "Mein Haus wurde um sieben Uhr abends von einer Granate getroffen, normalerweise bin ich zu dem Zeitpunkt zu Hause, aber ich war hier, im Krankenhaus." Lesen Sie dazu auch: Krieg gegen die Ukraine – Die Massengräber von Isjum

Langsam kommt der Alltag zurück

Zuhause hat Jurij Kusnetsows keine Heizung mehr, kein Wasser, kein Telefon. Immerhin gibt es seit ein paar Tagen wieder Strom in Isjum. Und manchmal sogar Internet. Es sind ganz kleine Schritte auf dem Weg in die Normalität zurück. Doch ein Teil des Krankenhauses sei zerstört, "daher können wir nicht alles anbieten", so der Arzt.

In der Infektionsabteilung gebe es zum Beispiel keine Fensterscheiben mehr. "Aber", sagt der Arzt, "ich bin Optimist. Wir haben bereits zwei funktionierende Abteilungen, insgesamt sind 100 Patienten hier auf Station."

Der Alltag kommt zurück in Isjum. Die Bank hat wieder geöffnet, am Schalter stehen die Älteren an, warten auf die Auszahlung ihrer kargen Renten. Im Laden nebenan gibt es seit ein paar Tagen das Allernötigste, ein paar Konserven, Brot, Getränke. Doch für die Menschen ist der Krieg noch längst nicht vorbei. Viele Häuser sind zerstört – und es lauert eine tödliche Gefahr: Minen.

Im Krankenhaus behandelt Jurij Kusnetsow die Minen-Opfer. Gerade wird im Rollstuhl ein junger Mann vorbeigeschoben. Ihm hat es den rechten Fuß abgerissen.

"Die meisten, die wir nicht retten konnten, habe ich gekannt". Jurij Kusnetsow verarztet Kriegsopfer © Jo Angerer/FunkeFotoservices

Minen werden jahrzehntelang gefährlich bleiben

Antipersonenminen sind nach der Ottawa-Konvention von 1997 international geächtet. Russland hat sich dem Verbot nie angeschlossen. Eine ukrainische Einheit zur Kampfmittelbeseitigung soll bei Charkiw Antipersonenminen vom Typ POM-3 gefunden haben. Sie gelten als besonders gefährlich.

Die Sprengkörper sind mit Bewegungssensoren ausgestattet. Nähert sich eine Person, wird die Detonation ausgelöst. Die Mine ist im Radius von 16 Metern tödlich oder verursacht schwere Verletzungen. Besonders perfide: Vor der Explosion springen die Minen ein Stück weit in die Höhe, die Splitter verteilen sich großflächig.

Diese Minen werden noch über Jahrzehnte eine tödliche Gefahr bleiben. Vor einiger Zeit, so erzählt Jurij Kusnetsow, sei ein 17-jähriger Junge gestorben. Im Wald sei er auf eine Mine getreten, die dort noch aus dem Zweiten Weltkrieg lag.

"Wir bekommen von nirgendwo etwas"

Ein paar Straßen vom Krankenhaus entfernt steht ein großer, fünfstöckiger Wohnblock, in dessen Mitte eine riesige Lücke klafft. Dort hatte der 62-jährige Oleksandr Chuvalum seine Wohnung. "Ab dem 24. Februar wurde bereits geschossen, aber wirklich hart wurde es ab dem vierten März, als die Russen begannen, mit schwerer Artillerie und Panzern zu schießen", erzählt er.

Als sein Haus getroffen wurde, war Oleksandr zum Glück gerade draußen. "Es war am 9. März um neun Uhr morgens, wir hörten Hilferufe. Ich bin mit einem Freund herbeigeeilt, und wir versuchten, Leute herauszuziehen. Den ganzen Tag brannte es dort." Über 40 Menschen starben an diesem Tag unter den Trümmern.

Sein Zuhause hat Oleksandr verloren. Wie es weiter geht? "Schwer zu sagen. Es wird versprochen, dass die Wohnung wieder repariert wird oder neu gebaut, aber das ist eher Utopie." Jetzt muss er erstmal über den Winter kommen, wie alle hier. "Wir versuchen uns selbst mit eigenen Händen zu versorgen, denn wir bekommen von nirgendwo etwas. Gott sei Dank gibt es manchmal Strom, ich habe zwei elektrische Heizkörper gekauft, aber einer ist schon durchgebrannt."

Oleksandrs Wohnung ist zerstört. Dass die Regierung sie wie versprochen wieder aufbaut, mag er nicht recht glauben.
Oleksandrs Wohnung ist zerstört. Dass die Regierung sie wie versprochen wieder aufbaut, mag er nicht recht glauben. © Jo Angerer/FunkeFotoservices

"Ich hoffe, ich überlebe den Winter"

Minus fünf Grad hat es am Morgen, als Lyudmila Lubtschenko, 76 Jahre alt, zum Brunnen geht und Wasser holen will. Doch der ist zugefroren. In Isjum ist es bitterkalt in diesen Tagen. Einige Wohnungen sind wieder an die Gasversorgung angeschlossen, doch die meisten Menschen sind auf Holz oder auf Elektroöfen angewiesen. So auch Lyudmila.

Sie hat zwei Radiatoren, doch heute, nach massiven russischen Angriffen auf Kraftwerke und Umspannstationen, gibt es keinen Strom. "Ich hoffe, ich überlebe den Winter", sagt sie. Im Haus sei fast alles zerstört, "bis auf ein Zimmer".

Darin versucht Lyudmila der Kälte zu trotzen. Ein Bett hat sie, etwas Kleidung, Decken. "Im März wurde das Dach von einer Granate getroffen", sagt sie. Überlebt hat sie im Keller, wo sie sich mit drei weiteren Bewohnern vor Bomben versteckte.

Lyudmila Lubtschenko lebt im zerbombten Haus ihrer Großeltern.
Lyudmila Lubtschenko lebt im zerbombten Haus ihrer Großeltern. © Jo Angerer/Funke Fotoservices

"Es gab wenig Platz, wir konnten uns nicht richtig hinlegen, so saßen wir einen Monat lang da." Damals, im März, war es sehr kalt. Lebensmittel hatten sie, aber keine Möglichkeit zu kochen. "Nach drei Wochen hatten wir zum ersten Mal heißen Tee getrunken. Ein junger Mann, der mit uns hier im Keller war, ist rausgegangen und hat hier ein Lagerfeuer im Hof gemacht."

Dann kam der Sommer, der Herbst. "Jetzt haben wir das Dach mit einer Plane abgedichtet, aber früher, als es regnete, musste ich immer Wasser mit dem Eimer raustragen. Einmal waren es 27 Eimer Wasser am Stück", sagt Lyudmila. Schon ihre Großeltern wohnten in diesem Haus. Sie hatte es renoviert, vor vielen Jahren, zusammen mit ihrem Bruder, der längst verstorben ist. Ob es noch zu retten ist? Sie weiß es nicht.

Weg aus Isjum will keiner

Trotz allem: Lyudmila Lubtschenko will in Isjum bleiben, glaubt an den Neuanfang. "Früher habe ich mich aufgeregt, wenn die Katze an der Couch kratzte. Aber jetzt ist die Couch hinüber, ich muss sie wegwerfen." Das Materielle sei nichts mehr wert, "das Leben ist das Einzige, was für mich noch zählt."

Auch Oleksandr Chuvalum will nicht weg. "Ich wurde in Isjum geboren, ich bin hier groß geworden. Ich war hier auch während der Kämpfe. Ich bin nirgendwohin gefahren, und ich habe das auch nicht vor."

Jurij Kusnetsow, der Arzt, wird weiter am Krankenhaus arbeiten. "Um glücklich zu sein, braucht man keine Autos oder sonst irgendwas. Das alles ist zweitrangig. Man braucht Dinge, die man nicht mit Geld bezahlen kann: Gesundheit. Und Frieden."