Kabul. Als Kind entkam Latifa knapp dem Tod, weil ihr Menschen in Deutschland halfen. 25 Jahre später trifft sie ihre Retterin in Kabul wieder.

Latifa wischt die Tränen mit dem Saum ihres Kopftuchs von ihren Wangen, nestelt aus ihrer Handtasche einen weißen Briefumschlag, zieht die Bilder heraus. Obwohl sie schon ein Vierteljahrhundert alt sind, sind sie noch nicht vergilbt. Latifa hat sie aufbewahrt wie einen Schatz. Dass sie heute hier in diesem Haus in Kabul sitzen kann, grenzt an ein Wunder. Als kleines Mädchen war sie dem Tode nah. Sie hat überlebt, weil ihr Menschen in Deutschland geholfen haben.

Mitte Oktober sitzt Claudia Peppmüller in ihrem Büro in der Zentrale des Friedensdorfs International in Dinslaken am Niederrhein und spricht in einer Videoschalte mit Ehrenamtlern. Peppmüller ist die Sprecherin des Friedensdorfes, einer Hilfsorganisation, die seit fast drei Jahrzehnten verletzte und kranke Kinder zur Behandlung aus Afghanistan nach Deutschland holt. In der Schalte erzählt die 53-Jährige von dem Fall, der sie am meisten mitgenommen hat. Von Latifa, die im Alter von zehn Jahren ins Friedensdorf kam.

Speiseröhre verätzt: Die Ärzte weinen, als sie Latifa sehen

Latifa wiegt gerade einmal neun Kilogramm, als sie im Mai 1996 in Deutschland ankommt.
Latifa wiegt gerade einmal neun Kilogramm, als sie im Mai 1996 in Deutschland ankommt. © Jan Jessen

Auf den Bildern, die sie damals im Friedensdorf machen, ist ein bis auf die Knochen abgemagertes Mädchen zu sehen. Latifa wiegt gerade einmal neun Kilogramm, als sie im Mai 1996 in Deutschland ankommt. Ihre Speiseröhre ist verätzt, sie hatte drei Monate zuvor Batteriesäure getrunken. Die Ärzte und die Friedensdorf-Mitarbeiter, die Latifa sehen, weinen bei ihrem Anblick. Als Peppmüller am Krankenbett sitzt, deutet das Kind mit zitternden Fingern auf ihren Ohrring. Die Helferin schenkt ihr den Schmuck. Sie glaubt, einem todgeweihten Mädchen den letzten Wunsch zu erfüllen.

Keiner gibt AFG003004984 eine Chance. Das ist die Nummer, unter der Latifa geführt wird. Doch das Mädchen ist stark, die Behandlung in Krankenhäusern in Gladbeck und Dortmund erfolgreich. Ein dreiviertel Jahr später kehrt Latifa geheilt nach Afghanistan zurück. Die Bilder, die vor ihrer Abreise gemacht werden, zeigen ein lachendes, gut genährtes Kind.

„Du glaubst nicht, wer neben mir steht“

Nur wenige Minuten nach der Videoschalte im Oktober 2022 klingelt bei Claudia Peppmüller das Telefon. Am anderen Ende ist Dr. Marouf Niazi, der afghanische Arzt, mit dem das Friedensdorf seit Beginn der Einsätze zusammenarbeitet. „Du glaubst nicht, wer neben mir steht“, sagt er. Es ist Latifa. Er hat sie zufällig getroffen. Sie ist als Patientin in seine Klinik in der afghanischen Hauptstadt gekommen. Peppmüller ist fassungslos und glücklich zugleich.

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Knapp drei Wochen später reist Peppmüller mit ihrer Kollegin Birgit Hellmuth nach Afghanistan, um Kinder für die Behandlung in Deutschland abzuholen. Am zweiten Tag der Reise besucht Latifa die beiden Frauen in dem Gästehaus des Afghanischen Roten Halbmondes in Kabul. Sie trägt ein langes schwarzes Kleid, ein braunes Kopftuch, das Gesicht ist unverschleiert. Als sie Claudia Peppmüller sieht, umarmen sich die beiden Frauen innig. Beide weinen.

In Kabul trifft Claudia Peppmüller Latifa. Als sie sich umarmen, müssen beiden weinen.
In Kabul trifft Claudia Peppmüller Latifa. Als sie sich umarmen, müssen beiden weinen. © Jan Jessen

Latifa: Einige deutsche Wörter hat sie behalten

Der kleine Junge, der mit Latifa gekommen ist, schaut ungläubig und verunsichert. Es ist Suleiman, ihr Sohn. Dass seine Mutter weint, ist für den Elfjährigen eine neue Erfahrung. Aus dem so kranken Mädchen von einst ist eine Frau geworden, die ein hartes, entbehrungsreiches Leben gemeistert hat. Sie hat fünf Kindern geboren, Suleiman hat vier Schwestern.

Als sie ihre Tränen getrocknet hat, schauen sich die Frauen und der afghanische Doktor die Bilder an, die Latifa mitgebracht hat, sie scherzen darüber, wie die Zeit sie verändert hat, sie lachen. Die junge Frau erinnert sich an die Herzlichkeit der Mitarbeiterinnen im Friedensdorf. Einige deutsche Wörter hat die heute 36-Jährige behalten. Kinderstation. Brötchen. Bitteschön. Dankeschön.

Afghanistan: „Mein Vater hatte für eine Mudschaheddin-Gruppe gearbeitet.“

Dann erzählt Latifa, wie es ihr erging, nachdem sie 1997 aus Deutschland zurückgekehrt war. Sie war glücklich, wieder bei ihren Eltern und Geschwistern sein zu können, kam aber damals in ein völlig verändertes Land zurück. Die Taliban hatten die Macht übernommen und ihr radikalislamisches Regime errichtet. Musik war verboten, Mädchen durften nicht die Schule besuchen. „Mein Vater hatte als Koch für eine Mudschaheddin-Gruppe gearbeitet.“

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Die Mudschaheddin, die zwischen 1979 und 1989 mit US-amerikanischer Unterstützung gegen die sowjetische Besatzung gekämpft hatten, hatten sich in den neunziger Jahren untereinander bekämpft. Die Taliban beendeten die Herrschaft der Mudschaheddin und den Bürgerkrieg. Es gab damals nicht wenige Menschen in Afghanistan, die sich über ihre Machtübernahme freuten, weil sie ein Ende der Gewalt verhieß.

Nach dem Ende der Taliban kehrte die Familie nach Afghanistan zurück

Latifas Familie geriet jedoch wegen des früheren Jobs des Vaters in das Visier der neuen Machthaber. „Sie nahmen meinen Vater fest und misshandelten ihn, als er freigelassen wurde, sind wir nach Pakistan geflohen“, erzählt Latifa. Ihre Mutter war schwer herzkrank, sie musste als Elfjährige die Familie managen, ihre beiden jüngeren Brüder arbeiteten als Tagelöhner. Nach dem Ende des ersten Talibanregime kehrte die Familie 2001 zurück nach Afghanistan.

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Latifa heiratete mit 17 Jahren. Es dauerte einige Zeit, bis sie einen Mann gefunden hatte, der sie nahm, sie galt als schwer vermittelbar auf dem Heiratsmarkt, weil sie als Kind so krank war. In Afghanistan gilt eine Erkrankung als Makel. „Mein Mann hatte einen Tumor am Kopf, als ich ihn kennenlernte“, sagt sie.

Millionen Menschen in Afghanistan sind aktuell von Mangelernährung bedroht

Jetzt sind die Taliban wieder zurück an der Macht. Latifas älteste Tochter darf nicht mehr zur Schule gehen, für die meisten Mädchen in Afghanistan ist die sechste Klasse derzeit Endstation. Die wirtschaftliche Situation im Land verschlimmert sich zusehends. Hunderttausende Menschen sind arbeitslos geworden, auch Latifas Ehemann. Er schlägt sich jetzt als Tagelöhner durch. „Das Leben ist schwierig“, sagt Latifa schicksalsergeben. Ihr jüngster Bruder ist vor acht Monaten von den Taliban erschossen worden, sie verdächtigten ihn, für den Widerstand im Pandschir-Tal zu arbeiten, einer Gruppe, die gegen die neuen Herrscher Afghanistans kämpft.

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Während seine Mutter erzählt, stopft sich Suleiman den Bauch mit einer Süßspeise voll, der auf dem Tisch steht. Er ist spindeldürr. Millionen Menschen in Afghanistan sind aktuell von Mangelernährung bedroht. Hilfsorganisationen warnen vor einer absehbaren Katastrophe, viele Menschen werden sich auf den Weg nach Europa machen, sie sehen für sich keine Perspektive mehr in ihrer Heimat. Deutschland ist der Sehnsuchtsort. Zehntausende haben bereits die Dokumente ausgefüllt, die nötig sind, um vielleicht im neuen Bundesaufnahmeprogramm berücksichtigt zu werden.

Latifa in der Mitte mit Claudia Peppmüller (links) und Familie in Kabul.
Latifa in der Mitte mit Claudia Peppmüller (links) und Familie in Kabul. © Jan Jessen | Jan Jessen

Latifa: Mit dem kargen Leben in Afghanistan hat sie sich arrangiert

Dieser Winter kann schlimm werden, das weiß auch Latifa. Nach einer Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, fragt sie aber nicht. Sie hat sich mit dem kargen Leben in Afghanistan irgendwie arrangiert, sie freut sich darüber, dass die Miete für ihre kleine Wohnung von monatlich 4000 auf 3000 Afghanis, umgerechnet ein bisschen mehr als 30 Euro, gesunken ist. Als sie aufbricht, füllt sie ihre große schwarze Handtasche mit Obst. Sie lächelt verlegen. Ihr Gesicht verschleiert sie nicht, wie es die Taliban eigentlich verlangen. Die bärtigen Fanatiker können ihr keine Angst mehr machen.

Eine letzte Umarmung. Dann bricht Latifa mit ihrem Sohn auf. Die beiden Frauen des Friedensdorfes bleiben schweigend zurück.