Berlin. Seit Jahren hat sich Koch-Mehrin aus der ersten Reihe der FDP abgemeldet. Nun erhebt die 51-Jährige schwere Vorwürfe gegen Kollegen.

Vor acht Jahren verschwand die FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin aus der Spitzenpolitik – jetzt meldet sie sich mit einem Paukenschlag zurück. Die Ex-Politikerin berichtet in einem langen Interview mit dem "Stern" über sexuelle Anzüglichkeiten und körperliche Belästigungen durch Parteifreunde aus der FDP.

Das Thema ist hochbrisant, weil bereits der damalige Bundeswirtschaftsminister der FDP, Rainer Brüderle, wegen anzüglicher Bemerkungen gegenüber einer Journalistin eine heftige Debatte über Sexismus in Deutschland auslöste. Die Vorwürfe treffen die Liberalen in einer heiklen Phase, die Partei hat seit der Bundestagswahl im Herbst 2021 ohnehin viel an Zuspruch verloren und steht derzeit nur noch bei sieben Prozent.

Koch-Mehrin: "Ich wurde angefasst"

Koch-Mehrin, die die Liberalen 2004 als Spitzenkandidatin zurück ins Europäische Parlament geführt hatte, beschreibt die Belästigungen im "Stern" so: "Ja, ich wurde angefasst. Einfach so. Da waren immer wieder Hände auf meinem Knie. Man hat meine Brust berührt, mir ungefragt sanfte Rückenmassagen verabreicht." Außerdem habe es ständig Zoten und Anzüglichkeiten im Umgang mit Parteifreunden der FDP gegeben.

Man habe Sätze über sie gesagt, wie "Ich würde so gerne mit ihrer Eiskugel tauschen" oder "ich habe nichts gegen Frauenbewegungen. Hauptsache sie sind rhythmisch".

Ein Parteifreund habe über sie gesagt, "Ihre Zukunft liegt zwischen ihren Beinen". Besonders krass: Ein Europaabgeordneter habe ihr während ihrer Zeit als Praktikantin wortlos die Hand unter die Bluse geschoben. Als sie ihn zur Rede stellte habe er lediglich geantwortet, dass es eben schwer sei, "sich bei attraktiven Mitarbeiterinnen zu beherrschen".

Sexismus in der FDP: "Was hätte ich machen sollen?"

Die FDP-Politikerin hat die geschilderten Übergriffe damals ausgehalten und "höchstens mal mit den Augen gerollt". Silvana Koch-Mehrin stellt im Interview auch die Frage: "Was hätte ich denn machen sollen? Es gab damals niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Und schon gar keine offizielle Stelle, wo man so etwas melden könnte."

Koch-Mehrin bedauert heute, dass sie "durch Passivität mitgemacht" und keine Grenzen gezogen habe. Koch-Mehrin: "Dadurch habe ich das System unterstützt. Dabei fühlte ich mich als Feministin. Aber gesagt habe ich das nie."

Die 51-Jährige ist nach wie vor Mitglied der FDP im Kreisverband Karlsruhe. Sie machte Schlagzeilen als ihr der Promotionsausschuss der Universität Heidelberg 2011 den Doktorgrad wegen zahlreicher Plagiate in ihrer Dissertation aberkannte. Die Vorwürfe hatten zu ihrem Rücktritt als Vorsitzende der Liberalen im Europaparlament geführt.

Die Vorwürfe der sexuellen Belästigung sind auch Thema in Silvana Koch-Mehrins neuem Buch "Jetzt, wo ich schon nicht tot bin", in dem sie auch ausführlich über ihre überstandene Brustkrebserkrankung berichtet. Koch-Mehrin lebt in Brüssel mit einem Rechtsanwalt und hat drei Töchter.#

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FDP: Übergriffigkeit und sexuelle Belästigung "nicht geduldet"

Die FDP wurde zum Zeitpunkt der beschriebenen Übergriffe von Guido Westerwelle geführt, der 2016 an Krebs verstarb. Im Interview spricht Koch-Mehrin ausschließlich positiv über Westerwelle, der sie politisch gefördert und unterstützt habe.

In der sogenannten Brüderle-Affäre der FDP hatte eine Journalistin des "Stern" Anfang 2013 Anzüglichkeiten des damaligen Bundeswirtschaftsministers öffentlich gemacht, die sie als Reporterin selbst erfahren habe. Vorwürfe weiterer Frauen folgten und lösten in Deutschland eine sehr grundsätzliche Debatte über Sexismus aus.

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Die aktuelle FDP-Führung bot Koch-Mehrin "persönlich Unterstützung bei der Aufarbeitung der von ihr angesprochenen Vorgänge an". In einer Erklärung auf Anfrage unserer Redaktion heißt es: "Die Berichte von Silvana Koch-Mehrin unterstreichen die Notwendigkeit des umfassenden Erneuerungsprozesses, dem sich die FDP ab 2014 unterzogen hat. Die FDP hat beim Bundesparteitag 2019 Leitlinien für ein respektvolles Miteinander der Freien Demokraten ("Code of Conduct") beschlossen. Sie unterstreichen, dass Übergriffigkeit, sexuelle Belästigung oder sonstige aggressive und abwertende Verhaltensweisen in der FDP nicht geduldet werden." (jos)