Slowjansk. Das ukrainische Regiment Dnipro 1 trifft in der Region um Slowjansk im Donbass auf Putins Armee. Die Verteidiger erwartet „die Hölle“.

Bei der alten Station im Wald hat das Regiment Dnipro 1 einen Kommandoposten aufgestellt. Anton, der Kommandant, ist hochgewachsen und ausgemergelt. Er hat den müden Blick der Veteranen, obwohl er erst 27 Jahre alt ist. Er führt eine Gruppe von 40 Männern an.

In einer ehemaligen Sauna befindet sich sein Beobachtungsposten. Auf einem Computerbildschirm beobachtet er die Waldlandschaft. Die Kamera ist irgendwo in den Bäumen installiert. Sie zeigt einen 360-Grad-Rundumblick.

Slowjansk ist eine der letzten Städte in diesem Abschnitt der Front im Donbass, die noch von der Ukraine kontrolliert wird. Noch. Denn die russischen Truppen rücken näher, Tag für Tag. Die Hälfte der 100.000 Einwohner ist geflohen. Immer öfter fällt der Strom aus. Seit Tagen gibt es kein Wasser.

In der Ferne sind weiße Berge zu sehen. „Die Russen sind direkt dahinter“, sagt Anton und zeigt auf das Massiv. 300 Meter von ihm entfernt geben Artilleriegeschütze immer wieder Schüsse ab. Weißer Rauch auf dem Bildschirm zeigt an, wo die Geschosse niedergegangen sind. Das Donnern der Artillerie grollt durch den Wald. „Mit drei Bildschirmen, zwei Telefonen und einem Funkgerät können wir das Schlachtfeld überwachen und den Beschuss und die Truppen leiten“, erklärt er stolz.

Ukraine: In der Stadt Slowjansk geht man vom Schlimmsten aus

Der Benzingeruch wirkt in der erdrückenden Hitze immer penetranter und verursacht Übelkeit. Im Schatten hängen die Männer ihre Wäsche auf, während der Generator brummt und die frisch aus den USA gelieferten M777-Haubitzen feuern. „Drohnen können auch nicht alles“, fährt Anton fort. „Sie sehen die Spuren der Fahrzeuge im Gras nicht.“ Man muss auch Leute schicken, sagt er, Erkundungsteams, wie früher.

Anton, der Kommandant, überwacht am Computerbildschirm aus einer ehemaligen Sauna heraus die Umgebung.
Anton, der Kommandant, überwacht am Computerbildschirm aus einer ehemaligen Sauna heraus die Umgebung. © François Thomas | François Thomas

Slowjansk bereitet sich vor. In der Stadt im Donbass ist man sich darüber klar, dass man sich an vorderster Front befinden wird, wenn die Russen bei den strategisch wichtigen Städten Sjewjerodonezk und Lyssytschansk weiter nach Norden durchbrechen.

„Danach sind es nur noch 90 km Luftlinie bis zu den Vorstädten von Slowjansk.“ Jurij Beresa sitzt hinter seinem Schreibtisch in seinem Hauptquartier in einem Vorort der Stadt. Er weiß, wovon er spricht. Juri ist ein freundlicher Mann. „Bücher haben mich zu dem gemacht, der ich bin“, er zitiert lächelnd Michail Bulgakow und Alexandre Dumas. Der Veteran ist für die Verteidigung der Stadt zuständig. Er ist 52 Jahre alt, sein Bart ist grau meliert, er trägt Militärkleidung.

Beresa beaufsichtigt die Vorbereitungen für die Abwehrschlacht gegen die Armee aus Russland. „Mehr Gräben, mehr Beobachtungsposten, mehr Minenfelder.“ Auf Beresas Tablet erscheint eine Karte der Gegend. „Slowjansk ist strategisch wichtig. Von hier aus führen drei Straßen ins Herz der Ukraine“, erklärt er. Dann geht er auf die taktische Situation ein: „Die Russen versuchen, von Isjum im Nordwesten vorzustoßen. Im Süden wollen sie Bachmut einnehmen, während sie von Sjewjerodonezk aus nördlich drängen. Im Augenblick werden sie von der Natur und von den Flüssen aufgehalten. Und in der Ukraine sind die Flüsse breit, sagt er lachend.

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Ukraine: Es fehlt an Artilleriemunition und an Transportmitteln

Beresa ist in der Region kein Unbekannter. 1987 trat er in die damals noch sowjetische Militärakademie ein und arbeitete sich bis zum Oberbefehlshaber des Stützpunkts Charkiw hoch. 2003 verließ er die Armee und wurde Geschäftsmann. 2004 schloss er sich der Euromaidan-Bewegung an. Als 2014 der Krieg begann, kehrte er in den aktiven Dienst zurück und baute ein Regiment auf, das aus ehemaligen Militärpolizisten bestand und den Namen Dnipro 1 bekam. Und der Militärexperte ist sogar Mitglied des Parlaments in Kiew.

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© funkegrafik nrw | Marc Büttner

Hinter ihm ist die Fahne der Einheit Dnipro 1 aufgespannt. Zusammen mit der Armee und den territorialen Verteidigungsstreitkräften haben er und seine 1000 Mann sich in der Stadt einquartiert.

„Es ist kein Geheimnis, dass es uns an Artilleriemunition und an Transportmitteln für die Truppe fehlt. Wir müssen die Stadt halten, aber wir haben keine Mittel, um eine Gegenoffensive zu starten. Aber unsere Moral ist sehr gut“, erklärt er und hebt den Daumen. „Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit“, fährt er fort. „Wenn Waffen und Munition ankommen, können wir sie zurückschlagen. Wenn nicht, igeln wir uns hier ein, wie wir das seit drei Monaten überall in der Ukraine machen.“

Ein Fünftel der Einwohner harrt in der Stadt aus

In der Stadt gibt es immer noch kein Wasser. Von den 100.000 Einwohnern harrt noch etwa ein Fünftel in Slowjansk aus. Immer öfter fällt der Strom aus. „Die Wasserversorgung müsste in ein paar Tagen wieder funktionieren. Wir arbeiten daran. Die Russen nehmen die Pumpstationen ins Visier und das Stromnetz, das sie versorgt.“

Was in den nächsten zwei Monaten zu erwarten ist? Er schüttelt den Kopf. „Wir denken hier von Tag zu Tag. In Wochen wäre schon zu viel. Auf jeden Schuss, den unsere Artillerie hier abgefeuert hat, kamen vor einiger Zeit fünfzig von den Russen. Und es sind immer noch zwanzig. Wir müssen auf ein Verhältnis von eins zu fünf kommen“, sagt der Mann, der in drei Armeen gedient hat. „Erst die sowjetische, dann die russische und jetzt die ukrainische. Wir wissen, gegen wen wir hier kämpfen, die Ausbildung war die gleiche. Wir kennen ihre Art zu kämpfen. Das hat sich seht einem Jahrhundert nicht geändert.“

Er tut, als kurbelte er an einem Feldtelefon, um die Befehlskette der Russen zu imitieren. „Die sind in den 80er-Jahren stehen geblieben. Wir dagegen haben uns weiterentwickelt. Und wir sind ihnen voraus. „Sie haben die gleiche Taktik wie früher. Bombardieren, alles dem Erdboden gleichmachen. Genau wie sie es in Grosny, Aleppo und Mariupol gemacht haben. Sie schicken Sklavenarmeen. Kanonenfutter.“

Russen würden versuchen, den Fluss auf Pontons zu überqueren, meint Dmitro

Genau das passiere in Sjewjerodonezk. Die Russen würden versuchen, den Fluss auf Pontons zu überqueren. „Wir bombardieren sie, aber sie haben ihre Befehle und versuchen es wieder. Wir bombardieren erneut. Sie sterben, aber am nächsten Tag machen sie weiter. Die Verluste an Menschenleben sind ihnen völlig egal“, sagt Beresa und erhebt sich.

Sein Hauptquartier ist ein Labyrinth. Schlafsäcke liegen herum. Waffen und Schutzwesten warten auf ihre Besitzer.

Auf einem Bildschirm an der Wand erscheint eine Comic-Eule, die eine Mörsergranate in den Fängen hält. „Das ist das Wappentier unserer Luftaufklärungseinheit“, erklärt ein junger, braun gebrannter Mann. Der 32-jährige Dmitro Podworchanskij leitet im Ukraine-Krieg den Bereich Forschung und Innovation bei der Einheit. „Alles, was aus dem zivilen Bereich kommt und sich an unseren Bedarf anpassen lässt, ist willkommen.“ Auf seiner Schulterklappe: ein offenes Auge mit der Devise „Die Augen im Himmel“.

Ukraine: Drohnen der Bauern werden mit Raketen bestückt

Dmitro war früher Entwickler in einem Tech-Unternehmen. Seit Beginn des Krieges im Jahr 2014 ist er beim Regiment Dnipro 1. Bilder der Schlacht von Rubischne erscheinen auf seinem Bildschirm. Die Stadt mit ihren 50.000 Einwohnern nördlich von Slowjansk wurde von Mitte März bis Mitte April belagert. Explodierte russische Panzer, plündernde Soldaten, Haufen von russischen Leichen auf einem Dach, alles aus der Luft aufgenommen. Auf einem der Bilder wartet eine große blaue Drohne auf den Start.

„Es heißt, die Ukraine ist ein Agrarland“, erklärt Dmitro und zeigt lächelnd auf das Fluggerät. „Und das stimmt auch. Aber wir sind eben auch ein Hightech-Land.“ Das ist eine landwirtschaftliche Drohne. Bauern nutzen zur Aussaat. „Wir haben sie umgebaut. Jetzt kann sie entweder eine 120-mm-Rakete tragen, oder vier RPG-Raketen oder Granaten. Das wird unser nächstes Geschenk für die Orks.“

Im Hof bereiten sich Männer auf die Abreise zur Front vor. Sie sind die Ablösung. Außerhalb von Slowjansk liegt die Front bei den Orten Lyman und Raigorok am nächsten. Sie werden, so erklärt Dmitro, nur durch den Fluss getrennt. Raigorodok heißt auf Ukrainisch „Paradiesstadt“.

Lyman ist vor zwei Wochen gefallen. Jetzt versuchen die Russen, dort den Fluss zu überqueren.

Die Männer kommen von der Patrouille zurück: Baseballkappen, Sonnenbrillen, sie sehen aus wie amerikanische Söldner. Alle setzen sich um den massiven Tisch. Sie alle haben zu den Verteidigern von Rubischne gehört. Die Stadt wurde von Mitte März bis Mitte April von den Russen belagert.

In seinem früheren Leben war Michael Journalist

Michail Koroljow ist einer von ihnen: 47 Jahre alt, im früheren Leben Journalist. Er holt sein Telefon hervor und zeigt Bilder von der Verteidigung. Auch andere ziehen ihre Telefone heraus. Die Bilder laufen über die Bildschirme, als wären es Urlaubserinnerungen. Auf einem der Fotos ist eine riesige orangefarbene Wolke vor dem blauen Himmel zu sehen. „Das ist eine Chemiefabrik, die Salpetersäure produziert hat. Die Russen haben sie unter Beschuss genommen, um sie zur Explosion zu bringen. Die giftige Wolke hat viele von unseren Männern geschädigt. Sie hatten Verletzungen auf der Haut und an den Augen.“

Auf anderen Bildern sind müde, hagere Gesichter zwischen Ruinen zu sehen. Und doch wollen die Soldaten auch unter dem Beschuss der Panzer noch Witze erzählt oder Selfies gemacht haben. „Wir haben einen Monat lang durchgehalten“, sagt Michail Koroljow durch seinen grau melierten Bart. „Bis zum Schluss haben wir die Stadt gehalten, auch als alles zerstört war. Erst dann haben wir uns zurückgezogen.“

In Rubinsche haben sie die Hölle des Krieges gesehen. „Dort haben wir alles gelernt, was man wissen muss: Wie man sich in Ruinen versteckt und inmitten der Zerstörung durchhält. Rubinsche war unsere Feuertaufe. Und hier werden wir anwenden, was wir gelernt haben.“

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.