Berlin/Kiew. Eine deutsche Krankenschwester organisiert medizinische Hilfe für Zivilisten im Ukraine-Krieg. Lebensgefahr ist Teil ihres Alltags.

Zwischen der Einschlagstelle der Raketen und dem Schreibtisch von Anja Wolz liegen Luftlinie nur etwa anderthalb Kilometer. Die 52-jährige Deutsche sitzt im Kiewer Büro der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen International, als die Stadt am vergangenen Donnerstag unerwartet unter Beschuss gerät. Es ist am Tag, als UN-Generalsekretär António Guterres Kiew besucht. Und es ist das erste Mal nach längerer Pause, dass wieder russische Bomben auf die ukrainische Hauptstadt fallen.

Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine vor fast zehn Wochen hat Wolz viele Luftangriffe miterlebt. Solange schon ist die gelernte Krankenschwester in der Ukraine im Einsatz, als Notfallkoordinatorin ihrer Organisation. Gemeinsam mit vielen freiwilligen Helfern und den ukrainischen Behörden versucht Wolz, kranke und verwundete Zivilisten aus den stark umkämpften Gebieten herauszuholen und zu versorgen.

Schon seit etwa 20 Jahren ist die gebürtige Würzburgerin für Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Wer hört, was sie in dieser Zeit alles erlebt hat, ist erstaunt, was für eine optimistische Grundeinstellung sie sich bewahrt hat. Wolz kennt Kriege und schlimmste Krisen, war etwa in Irak, Kongo, Libyen, Syrien, Südsudan und half in der Ebola-Epidemie.

Arbeiten im Krieg: „In der Ukraine gibt es keinen sicheren Ort“

Anja Wolz organisiert medizinische Hilfe für Zivilisten im Krieg.
Anja Wolz organisiert medizinische Hilfe für Zivilisten im Krieg. © Ärzte ohne Grenzen  | Ärzte ohne Grenzen 

Doch das Arbeiten in der Ukraine sei anders. „Es ist mein bislang gefährlichster Einsatz“, erzählt Wolz in Kiew am Telefon. „In der Ukraine gibt es keinen sicheren Ort“, sagt sie, „überall kann es zu Bombeneinschlägen kommen“. Das treffe selbst auf die west-ukrainische Stadt Lwiw zu, die als vergleichsweise sicher gelte.

Besonders schlimm sei es in Kiew vor rund vier Wochen gewesen. „Wir waren damals hier im Krankenhaus und sind nicht auf die Straße gegangen. Alle fünf Minuten gab es Beschuss.“ Ihre Familie in Deutschland habe sich große Sorgen gemacht und mehrfach versucht, sie vom Einsatz in der Ukraine abzubringen. Vergeblich.

Sie habe keine Angst, sagt Wolz fest, „sonst wäre ich nicht hier. Wer Angst hat, ist nicht rational. Und genau das muss ich hier sein“. Sie habe aber sehr viel Respekt vor der Lage und wisse genau, wie weit sie gehen könne „und wo die Grenzen sind“. Wolz trägt große Verantwortung. „Ich muss entscheiden, was wir als Team machen können und was nicht.“ Entsprechend streng seien die Sicherheitsauflagen, „wir tragen beispielsweise kugelsichere Westen“.

Einsatz im Ukraine-Krieg: 120 ausländische Helfer und viele Ortskräfte beteiligen sich

Ihr Team – das sind rund 120 ausländische Helferinnen und Helfer sowie Fachkräfte aus der Ukraine - darunter Chirurgen, Anästhesisten, Psychologen und Trauma-Therapeuten sowie OP-Personal und Pflegekräfte. Hinzu kommen diejenigen, die sich um Transport, Logistik und ums Übersetzen kümmern. Zudem betreibt die Organisation eine Art fahrendes Krankenhaus.

„Wir haben einen Zug mit Intensivstation. Wir können sehr schwere Fälle aus den umkämpften Gebieten rausbringen und unterwegs versorgen“, erklärt Wolz. Die Menschen würden dann in Kliniken in anderen Regionen weiterbehandelt. Auf diese Weise würden in den Kampfgebieten Krankenhauskapazitäten frei gemacht, falls dort neue Verletzte eingeliefert werden.

In Kiew hat sich die Lage laut Wolz aber trotz der jüngeren Bombardements wieder ein wenig normalisiert. Durch ausländische Spenden sei die medizinische Versorgung in der Hauptstadt wieder soweit hergestellt, dass neben Kriegsverletzungen auch wieder reguläre Operationen stattfinden könnten.

Corona in der Ukraine: Pandemie spielt seit dem Krieg keine Rolle mehr

Viele Patientinnen und Patienten kämen aus zerstörten Städten wie Irpin zur Behandlung nach Kiew, weil das Krankenhaus in ihrer Heimatstadt zerbombt wurde. Die Pandemie spiele in der Ukraine dagegen keine Rolle. „Hier ist die Haltung: Wir haben Krieg, es gibt kein Corona mehr“, sagt Wolz mit bitterem Lachen.

Auch Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck und Diabetes könnten zumindest in und um Kiew inzwischen wieder behandelt werden. Betroffen seien oft Ältere, die nicht geflohen seien. In den Wochen der russischen Bombardierung seien sie nicht an ihre Medikamente gekommen. Krebs- und Dialysepatienten seien dagegen meist schon im Vorfeld in andere Regionen oder in EU-Staaten gebracht worden.

„Aber ich habe auch von Krebskranken in Hostomel erfahren, die während der russischen Belagerung nicht behandelt wurden und deshalb gestorben sind.“ Und nach kurzer Pause schiebt Wolz mit düsterem Ton nach: „Wie die Lage in Mariupol ist, wissen wir nicht.“ Die von russischen Truppen belagerte Hafenstadt am Asowschen Meer ist derzeit fast täglich in den Schlagzeilen weltweit.

Lage in der ostukrainischen Stadt Mariupol: „Es ist eine totale Katastrophe“

Zehntausende Zivilisten sind seit Wochen in Mariupol eingekesselt, abgeschnitten von jeglicher Versorgung. Wie schrecklich der Alltag dieser Menschen tatsächlich aussieht, lässt sich kaum erahnen. Auch ihre Organisation habe derzeit keinen Überblick über die genaue Lage in Mariupol. „Aber nach dem, was wir bisher an Informationen haben, lässt sich klar sagen: Es ist die totale Katastrophe“, sagt Wolz.

Für sie steht fest: Das Ausmaß der Gräuel, die ans Licht kommen werden, werde immens sein. „Wir machen uns glaube ich keine Vorstellung davon, was wir dort noch sehen werden“, sagt Wolz. Butscha, Irpin und Hostomel, jene Orte des Schreckens also, in denen hunderte Menschen massakriert und getötet wurden, seien in diesem Krieg „nur die Spitze des Eisbergs“, glaubt Wolz.

Was für die vielen Helferinnen und Helfer in der Ukraine zugleich besonders bitter ist, ist die Tatsache, dass sie im Moment so gut wie nichts für die Menschen in Mariupol tun können. „Es ist derzeit nahezu unmöglich, Hilfsgüter nach Mariupol zu bringen“, sagt Wolz. Zwar gebe es Ehrenamtliche, die Medikamente in die belagerte Stadt schmuggelten, „aber das sind natürlich nur sehr kleine Mengen.

Mariupol: Selbst schwerst Verwundete können nicht operiert werden

Und es fehlt ja vielfach das medizinische Personal, um die Menschen zu vorsorgen“. Die Folge: Selbst schwerst Verwundete können nicht operiert werden, „die Menschen dort sind auf sich selbst gestellt“. Das gelte auch für andere umkämpfte Regionen. „Auch in weitere Städte in der Ostukraine können wir so gut wie nichts mehr liefern, seit dort die russische Militäroffensive begonnen hat.“

Wie sehr das bedrohliche Leben im Krieg dennoch zum Alltag werden kann, beobachtet Wolz an sich selbst. Täglich neue Tote, Bombenalarm, die ständige Gefahr – man gewöhne sich dran und das sei ein Problem. „Ich will das nicht als Normalität akzeptieren. Ich will nicht abstumpfen, das wäre das Schlimmste für mich“, sagt Wolz. Und sie hoffe, dass sich auch die internationale Öffentlichkeit nicht daran gewöhnt, dass in der Ukraine Krieg herrscht.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt