Charkiw/Berlin. Wegen der Kämpfe kommen viele Menschen nicht mehr an Lebensmittel. Die humanitäre Lage in den Städten sei „schlecht bis katastrophal“.

Sergij Pronkin muss vorsichtig sein, wenn er durch die Straßen seiner Heimatstadt streift. Der junge Journalist dreht Videos mit seinem Handy, heimlich und nur schnell im Vorbeigehen. Aus Angst davor, dass die ukrainischen Soldaten ihn für einen russischen Spion halten. Und schießen.

Was Pronkin unserer Redaktion in seinen Videos schickt, sind Szenen einer verlassenen Innenstadt. Geschäfte sind leer, Schaufenster teilweise zerstört. Kein Auto ist zu sehen, kaum Fußgänger. Und: Viele Supermärkte sind geschlossen. Man hört Pronkins schnellen Atem und seine Schritte im Schnee auf den Straßen Charkiws, der ostukrainischen Metropole. Die russischen Einheiten feuern besonders heftig auf die Stadt.

Heute früh wagt sich Pronkin wieder nach draußen. Diesmal mit dem Fahrrad. Über das Handy tauschen sie sich aus: Wo sind noch Lebensmittelgeschäfte offen? Wo bekommt man noch Brot und Fleisch? Auf einer Karte tragen sie Märkte ein, die noch Essen verkaufen. Es gibt bestimmte Ketten, die noch mehr Vorrat hätten als andere, sagt Pronkin.

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Er erzählt, er habe heute Früchte, Fleisch, Würstchen gekauft, so viel, wie er schleppen kann, dazu zehn Flaschen Limonade und Kartoffeln. Das Essen verteilt Pronkin heute an Menschen, die fliehen wollen aus der Stadt in Richtung Westen; gestern an Familien, die mit ihren Kindern in Luftschutzräumen ausharren und sich nicht nach draußen trauen. Sergij Pronkin, mit dem unsere Redaktion schon seit Beginn des Krieges im engen Kontakt steht, sagt: „Niemand stirbt, weil er nicht genug zu essen oder zu trinken hat. Aber es wird zu einem Problem.“ Die Engpässe wachsen. Und mit ihnen auch die Angst vor Hunger.

Ukraine: Es sind drastische Hilferufe

Seit mehr als einer Woche marschieren russische Truppen auf die Metropolen Charkiw im Osten, Mariupol im Süden und die Hauptstadt Kiew zu. Vor allem Charkiw ist seit Tagen im Visier russischer Angriffe. Eine Rakete traf das Regierungsgebäude mitten in der Stadt, zehn Menschen starben. Immer wieder heulen die Sirenen.

Der Bürgermeister von Charkiw sagte nun, die Stadt brauche dringend „Korridore“ für humanitäre Hilfe. Und die Stadtregierung im südlichen Mariupol erklärte, sie sei nach Tagen der Gefechte von der Versorgung mit Wasser, Strom und Heizung abgeschnitten.

Ein Mann in Butscha schiebt sein Fahrrad an den Überresten eines russischen Militärfahrzeugs vorbei.
Ein Mann in Butscha schiebt sein Fahrrad an den Überresten eines russischen Militärfahrzeugs vorbei. © dpa

Es sind drastische Hilferufe. Die Lage habe sich dramatisch zugespitzt, sagt Martin Frick, Direktor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) in Deutschland. „Die Menschen harren in Kellern aus und können nur unter größter Gefahr Besorgungen machen. Gerade aus Kiew und Charkiw erreichen uns Berichte, dass Nahrungsmittel ausgehen und Trinkwasser knapp wird.“

Anderenorts ist nicht das fehlende Essen oder Trinkwasser das Problem – doch die Angst ist zu groß, auf dem Weg dorthin von Schüssen oder Explosionen getroffen zu werden. Gerade viele ältere Menschen können sich nicht mehr frei bewegen, ihnen fehlt das Netzwerk an Freunden, die helfen können.

Auch aus dem Auswärtigen Amt ist zu hören, dass die humanitäre Lage in den ukrainischen Städten, die von Kämpfen betroffen sind, „schlecht bis katastrophal“ sei.

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Der Ukraine-Krieg zerstört bereits die Lieferketten

Im US-Radio berichtet der Sprecher einer großen ukrainischen Supermarktkette davon, dass zwar noch ausreichend Produkte in den Lagern seien, aber die Lastwagenfahrer fehlen würden, die Lebensmittel ausfahren können. Der Krieg zerstört zunehmend die Lieferketten.

Videos von Augenzeugen aus verschiedenen Regionen zeigen leere oder halb leere Supermarktregale. Jemand postet ein Foto von einem Schild am Eingang eines Geschäfts in Kiew. Der Verkauf von Alkohol sei verboten, heißt es. Die Abgabe von Brot, Fleisch, Butter und Milch sei rationiert. David Cleary (53) ist US-Amerikaner und arbeitet als Englischlehrer in Kiew. Er erzählte unserer Redaktion schon vor drei Tagen, dass die Lebensmittelversorgung zum Problem werde. Mittlerweile sei auch die letzte Filiale der Supermarktkette ATB in der Nachbarschaft zu.

Die Weltgemeinschaft fährt nun die Hilfslieferungen für die Menschen in der Ukraine hoch. An den Grenzen zu dem Kriegsgebiet will die EU-Kommission mithilfe der Mitgliedstaaten Versorgungsstationen einrichten. Vor allem im Westen des Landes, rund um die Metropole Lwiw, funktioniert die Infrastruktur noch besser. Von den Kriegshandlungen sind die Menschen bisher verschont geblieben. Nun bauen Ukrainer in Lwiw Lager auf, oftmals mit Hilfslieferungen aus dem Ausland. Und versuchen dann mit Lastwagen oder den wenigen Zügen, die noch fahren, die Waren nach Kiew zu transportieren.

Ukrainische Rettungskräfte arbeiten vor dem beschädigten Rathausgebäude in Charkiw nach dem russischen Beschuss.
Ukrainische Rettungskräfte arbeiten vor dem beschädigten Rathausgebäude in Charkiw nach dem russischen Beschuss. © dpa

Doch in den umkämpften Gebieten ist der Zugang selbst für große Hilfsorganisationen schwierig. Zugleich sind Hunderttausende auf der Flucht und Helfern fehlen Informationen über Straßen und Wege, die noch sicher sind, um zu den Menschen in Not zu gelangen. Martin Frick, Direktor des Welternährungsprogramms: „Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.“

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