Berlin. Die russische Armee hat die Kontrolle über die Atomruine in Tschernobyl in der Ukraine übernommen. Die wichtigsten Informationen dazu.

Die Atomruine von Tschernobyl im Norden der Ukraine ist in russischer Hand. Nach Angaben des ukrainischen Präsidentenberaters Mychailo Podoljak nahm das russische Militär den zerstörten Reaktor am Donnerstag ein – nach „erbitterten“ Kämpfen, wie Podoljak sagte.

Russische Fallschirmjäger sichern nun das Gelände. Auch Spezialisten eines ukrainischen Wachbataillons seien nach Absprache weiter im Einsatz, sagte ein Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums am Freitag. Putins Truppen haben damit nun die Kontrolle über den Reaktor, der 1986 explodierte und zu einer verheerenden Atomkatastrophe führte. Unter Schutzhüllen lagern dort immer noch große Mengen von radioaktivem Material.

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Wie ist die Lage um Tschernobyl?

Laut russischem Verteidigungsministerium gibt es keine Auffälligkeiten, die radioaktiven Werte seien normal, sagte ein Sprecher. Hingegen teilte die zuständige ukrainische Behörde mit, sie messe deutlich erhöhte Strahlenwerte. Wegen der Lage und der Kämpfe sei es aber unmöglich, eine Begründung für diesen Anstieg zu erkennen. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) äußerte sich am Freitagvormittag dazu nicht.

Am Donnerstag hatte sich die Behörde in einer Stellungnahme sehr besorgt gezeigt: Wegen der potenziellen Unfallgefahr verfolge sie die Situation in der Ukraine „mit großer Sorge“, erklärte die UN-Organisation. Eine ungesicherte Atomanlage berge große Gefahr. Die IAEA erklärte aber auch, ihr Ansprechpartner auf ukrainischer Seite habe gemeldet, dass es keine Opfer und auch keine Zerstörung gegeben habe.

Jen Psaki, Sprecherin von US-Präsident Joe Biden, kritisierte die Einnahme der Sperrzone und der Mitarbeiter dort am Donnerstag scharf: „Diese unrechtmäßige und gefährliche Geiselnahme, die routinemäßige Arbeiten zum Erhalt und zur Sicherheit der Atommüll-Einrichtungen aussetzen könnte, ist unglaublich alarmierend und sehr besorgniserregend“, sagte sie. Lesen Sie hier: Unser Reporter in Kiew schildert, wie Ukrainer den Kriegsbeginn erleben

Warum hat Putin Tschernobyl eingenommen?

Die Reaktorruine ist sehr wahrscheinlich wegen ihrer geografischen Lage zum Ziel der russischen Armee geworden. Tschernobyl liegt nur etwa 100 Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt. Die Anlage habe “keine militärische Bedeutung“, sagte Jack Keane, ehemaliger stellvertretender Generalstabschef der US-Armee, der Nachrichtenagentur Reuters. Tschernobyl liege von Belarus aus schlicht auf der kürzesten Route nach Kiew.

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Wie gefährlich ist die Einnahme von Tschernobyl?

Unter einem ersten „Sarkophag“ aus Beton und einer zweiten, neueren Schutzhülle lagern in Tschernobyl immer noch die Überreste von rund 200 Tonnen Brennstoffen, die bei der Reaktorkatastrophe 1986 geschmolzen sind. Die Ruine liegt in einem Sperrgebiet, das Gelände ist immer noch in weitem Umkreis radioaktiv verseucht.

Doch Experten sehen nicht den damals havarierten Reaktor als größte Bedrohung in der aktuellen Situation. Edwin Lyman, Nuklear-Experte der „Vereinigung besorgter Wissenschaftler” („Union of Concerned Scientists“), sagte der Nachrichtenagentur AP, er könne sich nicht vorstellen, dass es im Interesse Russlands sei, dass Anlagen in Tschernobyl beschädigt würden.

Er sei vor allem besorgt über ausgediente Brennelemente, die ebenfalls dort gelagert werden. Wenn die Energieversorgung für das Kühlsystem unterbrochen werde oder die Lager beschädigt würden, könnten die Folgen katastrophal sein, sagte er. Die „Union of Concerned Scientists“ ist ein Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich für Abrüstung und Umweltschutz engagieren.

Die Stadt Prypjat wurde nach der Atomkatastrophe 1986 verlassen. Seit Donnerstag ist das Sperrgebiet und die Ruine des Reaktors in russischer Hand.
Die Stadt Prypjat wurde nach der Atomkatastrophe 1986 verlassen. Seit Donnerstag ist das Sperrgebiet und die Ruine des Reaktors in russischer Hand. © dpa | Efrem Lukatsky

Größtes Risiko sind Kämpfe um die aktiven Atomkraftwerke der Ukraine

Auch James Acton vom Carnegie Endowment for International Peace, einem renommierten außenpolitischen Thinktank, sieht nicht den havarierten Reaktor als unmittelbarste nukleare Bedrohung im Überfalls Russlands auf die Ukraine. Mehr zum Thema: Welche Rolle spielen Atomwaffen im Ukraine-Krieg?

Das größere Risiko seien Kämpfe rund um die vier aktiven Atomkraftwerke der Ukraine mit ihren insgesamt 15 Reaktoren. „Atomkraftwerke sind nicht für Kriegsgebiete gemacht“, schrieb Acton in einer Einschätzung der Lage.

Auch wenn es unwahrscheinlich sei, dass Russland gezielt Reaktoren angreift, könnten die Kraftwerke unbeabsichtigt zum Ziel werden, etwa durch Waffen, die ihr eigentliches Ziel verfehlen. Auch Schäden am Stromnetz könnten zum Problem werden laut Acton, weil Strom zur Kühlung der Reaktoren gebraucht werde, wenn die Betreiber gezwungen sein sollten, sie herunterzufahren.

Die Wahrscheinlichkeit für einen ernsthaften Atomunfall sei gering, schrieb Acton – doch wenn er eintreten sollte, „könnten die Auswirkungen gravierend sein und würden erheblich beitragen zu den langfristigen Folgen dieser Invasion für die Bevölkerung der Ukraine“.

Auch in Deutschland blickt man aufmerksam auf die Entwicklungen am Reaktor. „Das Bundesumweltministerium ist dazu in ständigem Kontakt mit der Internationalen Atomenergie-Organisation und den internationalen Partnern und wir beobachten die Lage vor Ort permanent“, sagte Grünen-Chefin Ricarda Lang dieser Redaktion. „Bislang gibt es glücklicherweise noch keine Anhaltspunkte, dass Radioaktivität freigesetzt wurde.“ Die Situation sei aber sehr gefährlich für die Menschen in der Ukraine und auch in den Nachbarstaaten.

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen.