Berlin. An der Grenze zu Polen spielt sich Dramatisches ab – Vorboten eines Problems, auf das die EU dringend noch eine Antwort braucht.

Es sind furchtbare Szenen, die sich an der Ost-Grenze zur Europäischen Union abspielen. Frauen, Kinder und überwiegend Männer stehen verzweifelt vor dem Stacheldraht, hinter dem polnische Soldaten Stellung bezogen haben. Die Menschen haben Rucksäcke und Rollkoffer dabei, die sie nach ihrer Landung in der belarussischen Hauptstadt Minsk vom Kofferband geholt haben, als ginge es auf eine Urlaubsreise. Mit zynischem Kalkül hat der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko sie einfliegen lassen, um sie ohne Rücksicht auf Verluste als Waffe gegen die EU einzusetzen. Skrupelloser geht es kaum.

Die Bilder erinnern an den Sommer 2015, als sich Abertausende Flüchtlinge auf den Weg nach Europa gemacht hatten und an einer Grenze strandeten. Sie riefen „Mother Merkel“ um Hilfe – denn die meisten der Menschen wollten nach Deutschland, um dort fern vom Krieg, fern von Hunger und Verfolgung, fern von wirtschaftlicher Not ein neues Leben aufzubauen. Auch jetzt rufen die Menschen „Deutschland, Deutschland“.

Lukaschenko ist ein Mann ohne Gewissen

Doch damit enden die Gemeinsamkeiten auch. Denn dieses Mal wurde das Elend an der Grenze mit voller Absicht herbeigeführt. Der Diktator missbraucht die Hoffnungen und Träume, das Leben von Menschen, damit die EU ihre Sanktionen gegen ihn, seine Komplizen und sein Land wieder lockert. Die Menschen sind gefangen in diesem Machtkampf. Es gibt es kein Vor und kein Zurück. Lukaschenko ist ein Mann ohne Gewissen. Er hat seine Menschenverachtung nicht erst gezeigt, als er die Demokratiebewegung blutig zerschlagen ließ. Oder den Auftrag gab, ein Flugzeug zu entführen, in dem Regimekritiker Roman Protassewitsch saß, der anschließend gefoltert und öffentlich vorgeführt wurde. Mehr zum Thema: Flüchtlingsstreit mit Belarus weitet sich aus – Röttgen droht auch Putin

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Funke Medien Gruppe / Mitarbeiter: Gudrun Büscher © Reto Klar | Reto Klar

Alles, was passiert, geschieht unter der schützenden Hand des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Nicht dass die beiden gute Freunde wären, aber sie sind nützlich füreinander. Russland versucht seit Jahren, die Europäische Union zu schwächen und zu spalten. Ein einheitliches, geschlossenes, demokratisches Europa, das zu seinen Werten steht, hat eine viel größere Anziehungskraft auf osteuropäische Länder wie beispielsweise Georgien, die Russland in seinem Einflussbereich sieht. Die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 ist hilfreich dabei. Und eben auch Lukaschenko als Schleuser von Flüchtlingen. Lesen Sie auch: Belarus: EU muss härter gegen Lukaschenko vorgehen

Die EU tut nichts – und hätte so viel zu tun

Die EU hat seit Jahren aber keine einheitliche Haltung zu dieser Herausforderung. Sie will sich aber nicht erpressen lassen. Und eigentlich will die Union auch keine Festung sein – von Stacheldraht geschützt. Aber genau das ist sie entlang der Flüchtlingsrouten zum Teil schon geworden. Auch der Graben in der Union ist längst sichtbar. Er verläuft zwischen Staaten wie Ungarn und Polen, die auf Abschottung und Härte setzen, und Ländern wie Deutschland, die für Quoten werben und Hilfen wollen für Länder wie Spanien, Italien und Griechenland, die von der Migration besonders betroffen sind.

Doch es herrscht Lähmung. Dabei müssen weitere Sanktionen beschlossen werden, die Lukaschenkos Komplizen einschließen, die an den Flügen mitverdienen. Auch die „Flüchtlings­airlines“ müssen gestoppt werden, die ihr Angebot aus dem Nahen und Mittleren Osten gerade ausbauen. Bei all dem ist wichtig: Die EU unterscheidet sich von Belarus – durch Menschlichkeit und ein Gewissen. Nur wo bleiben sie in dieser Krise?

Das ist auch eine wichtige Frage für die Ampel-Parteien. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Kanzler Olaf Scholz zum „Father Scholz“ werden will. Doch das Drama an der Grenze ist nur ein kleiner Ausschnitt der Wanderungsbewegung Richtung Europa, auf die die künftige Regierung eine Antwort finden muss.