Peking. Wahlen in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong führen zu einer schweren Schlappe für die kommunistische Führung in Peking.

Mitten in der Nacht brechen die Menschen vor Wahllokalen in Jubel aus, sogar Champagnerflaschen werden geköpft. Hongkongs Demokratielager hatte vor den Bezirkswahlen auf ein starkes Ergebnis gehofft. Dass der Sieg so deutlich ausfallen würde, hatte kaum jemand auf dem Schirm.

Es ist ein klarer Sieg für die Demokraten – und eine Schlappe für Hongkongs Regierung sowie die kommunistische Führung in Peking.

Das prodemokratische Lager stellt künftig 17 von 18 Bezirksräten und knapp 90 Prozent der Sitze. Damit hat es seinen Stimmenanteil nahezu verdreifacht. Die pekingtreuen Kräfte konnten nur einen einzigen Bezirksratsposten behalten.

Es ist ein Sieg der schweigenden Mehrheit. Millionen Hongkonger haben ein Signal ausgesandt: Trotz der gewaltsamen Ausschreitungen der letzten Wochen und trotz der Exzesse einiger radikaler Aktivisten stehen sie hinter den Zielen der Protestbewegung. Vor allem sind die Wahlergebnisse eine bittere Schmach für die Parteikader in Peking. Diese hatten immer wieder versucht, die Demonstranten als vom Ausland finanzierte Randalierer zu diskreditieren.

Hongkong: Erste Schritt „auf unserem langen Weg zur Demokratie“

„Das ist ein demokratischer Tsunami“, jubelte Tommy Cheung, ein ehemaliger Anführer von Studentenprotesten, der einen Sitz im Bezirksrat erringen konnte. Der Vorsitzende der Demokratischen Partei, Wu Chi-wai, sagte, das Resultat sei „der erste Schritt auf unserem langen Weg hin zu Demokratie“.

Joshua Wong, das internationale Gesicht der Demokratiebewegung, sprach von einem „historischen“ Wahlergebnis. „Während unsere Stadt von halb autonom zu halb autoritär verkommt, reagieren wir damit, zu zeigen, wie Demokratie in Aktion aussieht“, fand der 23-Jährige, der selber nicht als Kandidat antreten durfte. Er wurde von den Behörden disqualifiziert. Ihm wurde unterstellt, mit seinem Ruf nach Selbstbestimmung für die chinesische Sonderverwaltungszone eigentlich die Unabhängigkeit zu meinen.

Das Gesicht der Protestbewegung: Joshua Wong.
Das Gesicht der Protestbewegung: Joshua Wong. © dpa

Im Zentrum der seit rund sechs Monaten anhaltenden Proteste stand die Befürchtung, dass Peking die wirtschaftliche und politische Freiheit der ostasiatischen Geschäftsmetropole immer weiter einschränkt. Von einer „donnernden Zurechtweisung“ für die pekingtreue Regierung und einem „erschütternden Sieg für den prodemokratischen Block“ sprach die einflussreiche Hongkonger Zeitung „South China Morning Post“ am Morgen nach der Wahl.

Die Zentralregierung in Peking reagierte harsch. „Was auch immer für Dinge in Hongkong geschehen, Hongkong ist Teil des chinesischen Territoriums“, stellte der Pekinger Außenamtssprecher Wang Yi klar. „Jegliche Versuche, Hongkong zu zerstören oder Hongkongs Stabilität und Entwicklung zu schaden, können keinen Erfolg haben.“ Auf Twitter schrieb Hu Xijin, Chefredakteur der staatlichen Zeitung „Global Times“: „Es bleibt zu hoffen, dass die Pandemokraten ihren Einfluss von nun an innerhalb der Verfassungsordnung ausweiten und ihre radikale Straßenpolitik stoppen.“

Seit einem halben Jahr dauert der Konflikt an

Tatsächlich bietet sich nun die seltene Chance, den seit knapp sechs Monaten anhaltenden Konflikt in Hongkong politisch zu lösen. Für Hongkongs Verwaltungschefin Carrie Lam sollte das eindeutige Wahlergebnis eine Warnung sein, auf die fünf Forderungen der Demokratiebewegung zumindest einzugehen.

Einige von ihnen scheinen utopisch und nicht mit einem Rechtsstaat vereinbar – etwa eine vollständige Amnestie für verurteilte Aktivisten, unter denen sich auch einige radikale Gewalttäter befinden. Das Hauptziel sollte jedoch die Forderung nach freien Wahlen der Hongkonger Regierung sein.

Lam steht nun zunehmend unter Druck, den Forderungen der Demokratiebewegung entgegenzukommen. Laut aktuellen Umfragen macht das Gros aller Hongkonger ihre als inkompetent erachtete Führung für die eskalierende Gewalt zwischen Aktivisten und Sicherheitskräften verantwortlich. In einer ersten Stellungnahme gab sich Lam selbstkritisch: Sie werde „demütig und ernsthaft“ über den Ausgang des Votums nachdenken. Sie nehme zudem eine „Unzufriedenheit des Volkes mit der gegenwärtigen Situation und tief sitzende Probleme in der Gesellschaft“ wahr.

Wenn die Demonstranten ihre Forderungen auf rechtsstaatlichem Wege einbringen können, dann werden sie nicht mehr schwarz vermummt durch die Straßen ziehen und mit Molotowcocktails werfen. Sollte die Hongkonger Lokalregierung ihren Kurs der sturen Ignoranz weiterführen, wird sich die Protestbewegung mit dem Wahlergebnis im Rücken dazu ermutigt fühlen, ihre Anliegen erneut auf die Straßen zu bringen.

Wahlbeteiligung auf Rekordhoch

Vor allem aber belegten die Kommunalwahlen auf eindrückliche Weise den Willen der Hongkonger zur Demokratie. Noch nie zuvor gaben derart viele Einwohner der Sonderverwaltungszone bei Wahlen ihre Stimme ab. Die Beteiligung lag mit 71 Prozent auf Rekordniveau. Beim letzten Urnengang 2015 waren es nur 47 Prozent. Am Sonntag bildeten sich vor den meisten der 600 Wahllokale Hongkongs lange Schlangen. Viele Einwohner mussten über eine Stunde warten, um ihre Stimme abzugeben. Die Auszählung dauerte länger als üblich.

Unter normalen Umständen hätte die Kommunalwahl keine allzu große politische Bedeutung. Schließlich stimmen die Bezirksräte vor allem über Parkanlagen, Müllentsorgung und Wohnbauprojekte ab. Sie können keine Gesetze verabschieden und spielen bei der Wahl des nächsten Regierungschefs nur eine untergeordnete Rolle.

Doch inmitten der seit fast sechs Monaten anhaltenden Proteste haben die Aktivisten den Urnengang zum Referendum erhoben. „Es ist eine Wahl zwischen unseren fünf Forderungen und einem demokratischen System – oder aber man unterstützt die Verwaltungschefin Carrie Lam und die Polizei“, meinte Jimmy Sham, Kandidat des prodemokratischen Lagers.

Viele Hongkonger sorgen sich um die Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung

Die Protestbewegung hat seit Beginn des Konflikts fünf Forderungen gestellt, an denen sie noch immer festhält – darunter freie Wahlen und eine gerichtliche Untersuchung der Polizeigewalt gegen Demonstranten. Die derzeit amtierende Verwaltungschefin Carrie Lam ist in den Augen der Aktivisten eine Marionette Pekings.

Für die Demokratiebewegung werden die nächsten Monate vor allem herausfordernd: Politisch unerfahrene, oftmals gerade aus der Universität kommende Kandidaten haben die Sitze langgedienter Polit-Veteranen erobert. Sie müssen nun beweisen, dass sie auch in der realen Politik agieren können.

Darüber hinaus müssen sie sich den wirtschaftlichen Problemen Hongkongs widmen. Diese haben bei der Protestbewegung eine womöglich ebenso große Rolle gespielt wie die befürchtete Einflussnahme durch Peking. Die Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung ist massiv, Wohnungen sind extrem teuer, viele junge Menschen sind ohne Perspektive.

Die vielleicht erfreulichste Nachricht vom Wahltag bleibt jedoch unabhängig vom Wahlergebnis: Mehr als drei Tage lang blieb es in dem zuletzt blutigen Konflikt ausnahmslos ruhig.

Maas fordert „gesamtgesellschaftlichen Dialog“

Nach den Wahlen in Hongkong hat Außenminister Heiko Maas (SPD) weitere Schritte zur Entspannung der Lage in der chinesischen Sonderverwaltungszone aufgerufen. „Wichtig ist, dass es jetzt auch einen friedlichen, gesamtgesellschaftlichen Dialog zur Situation Hongkongs geben wird“, sagte Maas unserer Redaktion.

Der Außenminister nannte es „sehr erfreulich“, dass die Menschen in Hongkong ihr Recht auf demokratische Wahl „in einer besonders großen Zahl“ ausgeübt hätten. „Das zeigt, wie wichtig den Menschen in Hongkong die aktive politische Beteiligung ist.“