Washington. Edward Snowden hat seine Biografie „Permanent Record“ veröffentlicht. Die US-Regierung geht gerichtlich gegen den Whistleblower vor.

Wer in den am Dienstag erschienenen Memoiren von Edward Snowden nach Gänsehaut-Effekten sucht, wird ab Seite 407 umfassend bedient.

Im Schlusskapitel von „Permanent Record“, eine zwischen Technologiebildungsroman, politischem Weckruf, Rechenschaftsbericht und Real-Krimi pendelnde Biografie, räumt der durch seine Enthüllungen über die weltumspannenden Überwachungs-Methoden des US-Geheimdienstes NSA bekannt gewordene Computer-Experte in seinem Moskauer Exil mit der Idee der Privatsphäre auf.

Restlos.

Edward Snowdens „Permanent Record“ – Brandrede gegen Geheimdienste

„Wenn Du dies hier – diesen Satz – gerade auf irgendeinem modernen elektronischen Gerät, etwa auf einem Smartphone oder Tablet, liest, dann können die Geheimdienste Dir folgen und Dich lesen“, schreibt Snowden, dem in Amerika ein Prozess wegen Spionage und Landesverrat droht. „Sie können verfolgen, wie schnell oder langsam Du die Seiten umblätterst und ob Du die Seiten alle nacheinander liest oder zwischen den Kapiteln hin- und herspringst.”

Mehr noch: Für eine „interessierte Regierung“ wäre es ein Kinderspiel herauszufinden, ob „Du” das Buch „illegal heruntergeladen oder als gebundene Ausgabe online erworben oder in einem richtigen Geschäft mit einer Kreditkarte gekauft hast”.

Whistleblower Edward Snowden.
Whistleblower Edward Snowden. © dpa | Christian Charisius

Wie das geht? Snowden, der lange selbst Teil einer Maschinerie war, gegen die sich George Orwells 1984er Ahnungen waisenknabenhaft ausnehmen, spricht vom „Endprodukt einer Politiker- und Unternehmerschicht, die davon träumt, Dich zu beherrschen. Egal wo, egal wann und egal, was Du tust: Dein Leben ist zu einem offenen Buch geworden.”

Seine Brandrede, mit Hilfe des Schriftstellers Joshua Cohen kraftvoll und elegant geraten, endet in dem Befund, die Geheimdienste der Vereinigten Staaten hätten „sich selbst die Macht verliehen”, unser aller Daten „in alle Ewigkeit aufzuzeichnen und zu speichern”.

US-Regierung wirft Snowden Bruch der Vertraulichkeitsvereinbarung vor

Der US-Regierung stößt dieser Befund offenbar übel auf – sie hat eine Klage gegen Snowden wegen der Veröffentlichung des Buches eingelegt. Pünktlich zum Verkaufsstart am Dienstag teilte das US-Justizministerium mit, dass der Whistleblower gegen Vertraulichkeitsvereinbarungen verstoßen, die er mit den US-Geheimdiensten CIA und NSA unterzeichnet habe.

Laut der Vereinbarung hätte Snowden das Buch vorab zur Überprüfung vorlegen müssen – das sei nicht geschehen. Das Ministerium teilte weiter mit, mit der Klage solle nicht die Veröffentlichung oder Verbreitung des Buches gestoppt werden. Die Regierung wolle stattdessen auf die Einnahmen zugreifen, die Snowden durch das Buch erziele.

Der Staatsanwalt für den östlichen Distrikt im Bundesstaat Virginia, Zachary Terwilliger, sagte der Mitteilung vom Dienstag zufolge: „Geheimdienstinformationen sollten unsere Nation schützen, nicht persönlichen Profit liefern.“ Mit der Klage solle sichergestellt werden, dass Snowden keine Einnahmen durch den Vertrauensbruch generiere.

Snowden genießt Verbrecher- und Helden-Status zugleich

Snowden übergab vor vor sechs Jahren in Hongkong Gigabytes von geheimem NSA-Material an Journalisten des britischen „Guardian”. Seitdem entgeht der 36-Jährige in Russland der amerikanischen Strafverfolgung. In seinem Buch sieht Snowden das einzige Rezept, sich gegen die Massenüberwachung zu stellen, in einer „zwingend notwendigen internationalen Widerstandsbewegung”.

Der 1983 geborene Snowden, der in der Heimat Verbrecher- und Helden-Status zugleich genießt, plädiert für ein universelles Selbstbestimmungsrecht, das Staat und Industrie abgetrotzt werden müsse. Andernfalls werde „jede künftige Generation vom Datengespenst der vorherigen verfolgt und der ungeheuerlichen Anhäufung von Informationen unterworfen sein”.

Er lobt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Europäische Union, die 2016 die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) verabschiedet hat, „die bisher bedeutendste Maßnahmen im Kampf gegen die Übergriffe der technologischen Hegemonie”. Sprich: der Datenkraken made in the USA.

Leser bekommt Intimes und Privates geboten

Snowdens Buch, zeitgleich heute in 20 Ländern im Handel, bedient durch kluge Verknüpfungen verschiedene Zielgruppen. Wer in die Tiefen der IT-Abgründe abtauchen will, um aus erster Hand zu erfahren, mit welcher Chuzpe die US-Geheimdienste im globalen Maßstab staubsaugerhafte Datensammel-Werkzeuge entwickelten und an Recht und Gesetz vorbei zum Einsatz brachten, kommt auf seine Kosten. Wer mehr über einen prinzipiellen verschlossenen Whistleblower erfahren will, bekommt verdaulich dosiert Intimes und oberflächlich Privates geboten.

Beispiel Liebe: Seine damalige Freundin Lindsay Mills lernte der Mann, dessen Leben sich schon früh bevorzugt vor Computer-Bildschirmen abspielte, auf einer Kennenlern-Plattform namens „Hot-or-Not” kennen. Snowden gab ihr die Höchstnote 10. Er war ihr eine 8 wert.

Als er im Sommer 2013 nach Hongkong floh, um die NSA öffentlich zu demaskieren, sagt er ihr, um sie nicht in Gefahr zu bringen, kein Wort. 18 Monate später in Moskau sahen sich die beiden zum ersten Mal wieder. „Ich versuchte nicht viel zu erwarten, denn ich wusste, dass ich das nicht verdiente; das Einzige, was ich verdiente, war eine Ohrfeige”, leitet Snowden die Reminiszenz an die Begegnung mit seiner heutigen Ehefrau ein, „aber als ich die Tür öffnete, legte sie ihre Hand an meine Wange, und ich sagte ihr, dass ich sie liebe. `Pst!`, sagte sie, `ich weiß`.”

Mit zwölf entdeckt er Sicherheitslücken von Kernforschungsinstitut

Menschelnd und lakonisch geraten auch Schilderungen von stilbildenden Jugendsünden und früh gewachsenen Ressentiments. Um als Knirps die frühen Ins-Bett-geh-Zeiten zu umgehen, stellte er im Alter von sechs Jahren alle Uhren in seinem Elternhaus um mehrere Stunden zurück. Schule war für Edward Snowden „im besten Falle eine Ablenkung, im schlimmsten Fall ein illegitimes System, das jeglichen Widerspruch nicht anerkennt”.

Mit zwölf entdeckte Snowden, der das Internet damals unbekümmert als unerschöpfliche Fundgrube nutzte, auf der Seite des renommierten Kernforschungsinstituts von Los Alamos Sicherheitslücken. Und Unterlagen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

Der Sohn eines Vaters, der bei der Küstenwache tätig war und einer Mutter, die für den Geheimdienst NSA arbeitete, zeigte frühes staatsbürgerliches Bewusstsein und warnte die Forscher in New Mexiko via E-Mail und Telefon. Wenig später kam ein „Dankeschön” aus Los Alamos; verbunden mit einer Job-Offerte, wenn Snowden das 18. Lebensjahr vollendet hat.

Ein Aufkleber mit der Aufforderung nach Asyl für Edward Snowden.
Ein Aufkleber mit der Aufforderung nach Asyl für Edward Snowden. © imago/Andreas Prost | imago stock&people

Aber nach den Terror-Attentaten vom 11. September 2001 wollte „Ed” Snowden zum Militär. Aus patriotischen Gefühlen. Fußverletzungen warfen den schmächtigen Knaben in der harten Grundausbildung zurück. Er landete stattdessen beim Auslandsgeheimdienst CIA. Das Kapitel, in dem er seine Zeit in Genf bilanziert, wo der Geheimdienst mit infizierten USB-Sticks Firmen, Banken und die Vereinten Nationen ausspionierte, sorgt gerade im Schweizer Blätterwald für erhebliches Rascheln.

Über sein Leben in Russland gibt Snowden wenig preis

Nicht wirklich überraschend und doch eindrücklich: Als System-Administrator der NSA, der zuletzt in einem Tunnel-artigen Gebäude unter einem Ananas-Feld auf Hawaii arbeitete, stellte Snowden fest, was Internetnutzer (“jeder Volkszugehörigkeit, Rasse und Alter - vom gemeinsten Terroristen bis zum nettesten älteren Bürger”) weltweit verbindet: „Alle hatten irgendwann Porno-Seiten angeschaut, und alle hatten Fotos und Videos ihrer Familie auf dem Computer gespeichert.”

Auffällig wenig gibt Edward Snowden, der gern nach Deutschland oder Frankreich übersiedeln würde, indes über sein tatsächliches Leben unter der schützenden Hand von Wladimir Putin preis, der bald über eine Aufenthaltsverlängerung zu entscheiden hat.

Zur Sicherheit tarnt sich Snowden in Moskau angelegentlich noch immer mit Hut, Schal oder Rasuren, bevor er auf die Straße tritt; aus Furcht, von der CIA geschnappt zu werden. Videokameras geht er mit gesenktem Kopf aus dem Weg.

Fährt er Taxi, lässt er sich ein paar Häuserblocks von seiner gemieteten Drei-Zimmer-Wohnung entfernt absetzen. Snowden hat St. Petersburg und Sotschi bereist und Last-Minute-Eintrittskarten für das berühmte Bolschoi-Theater bekommen.

Seinen Lebensunterhalt, so sagt er, bestreitet er vorwiegend durch Honorare für via Skype zugeschaltete Reden, die er häufig vor Studenten, Bürgerrechtsaktivisten oder interessierten Normalbürgern hält. Die Tantiemen für „Permanent Record“ verschaffen dem weltbekannten Flüchtling ein weiches Polster.

  • Edward Snowden: „Permanent Record. Meine Geschichte.“ Aus dem Englischen übersetzt von Kay Greiners. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2019. 432 Seiten, 22 Euro.