Berlin/Valetta. Die „Alan Kurdi“ nahm im Mittelmeer 65 Menschen auf – doch damit begannen neue Probleme. Das Protokoll einer Seenotrettungs-Odyssee.

Die erlösende Nachricht kommt am Sonntag am späten Nachmittag. Da erklärt sich Malta bereit, alle 65 Flüchtlinge an Bord der „Alan Kurdi“ an Land zu lassen. Auf hoher See sollen die Menschen auf ein Kriegsschiff, später an Land gebracht werden, um alsbald auf europäische Länder verteilt zu werden. Bundesinnenminister Horst Seehofer bot an, Deutschland könne bis zu 40 Migranten aufnehmen.

Es ist das glückliche Ende eines tagelangen Flüchtlingsdramas. Das Logbuch einer Irrfahrt:

Freitag, 5.55 Uhr, vor Libyen: Die erste Wache entdeckt in der Ferne etwas, das sich vom Blau des Meeres abhebt. Es ist ein blaues Schlauchboot, vier Seemeilen vom Schiff, 34 Seemeilen von der Hafenstadt az-Zawiya entfernt. Die „Alan Kurdi“ von der Organisation Sea-Eye nimmt Fahrt auf.

Flüchtlinge verlassenen vor der Küste von Libyen ihr Schlauchboot. Die Flüchtlinge waren von Mitgliedern der Rettungsorganisation Sea-Eye von deren Hilfsschiff
Flüchtlinge verlassenen vor der Küste von Libyen ihr Schlauchboot. Die Flüchtlinge waren von Mitgliedern der Rettungsorganisation Sea-Eye von deren Hilfsschiff "Alan Kurdi" aus gerettet worden. © dpa | Fabian Heinz

Drei Stunden später sind alle 65 Menschen sicher an Bord des Rettungsschiffes, allesamt Afrikaner, mehrheitlich aus Somalia. Sechs kommen aus dem Sudan, die Übrigen aus Libyen, Kamerun, Südsudan, Mali, Tschad, Nigeria, Benin, der Elfenbeinküste und Guinea-Bissau. Der jüngste Migrant ist zwölf Jahre, der älteste 30 Jahre alt.

10.45 Uhr, auf See: Die ersten Nachrichten von der Rettung. Das Schiff wird alsbald Kurs auf Lampedusa nehmen. Für Italiens Innenminister Matteo Salvini muss es wie ein Déjà-vu-Erlebnis sein. Es ist gerade eine Woche her, dass ein anderes Schiff, die „See-Watch 3“, unerlaubt in den Hafen von Lampedusa gefahren war und angelegt hatte, allen Verboten zum Trotz. Das nächste Politikum, die nächste Hängepartie, die nächste Konfrontation ist bloß eine Frage der Zeit.

19.47 Uhr, Berlin: Im Innenministerium geht eine Mail von Salvini an den „gentile Collega“ Horst Seehofer ein. Der „geehrte Kollege“ und CSU-Politiker soll die Verantwortung übernehmen. Immerhin fahre das Schiff unter deutscher Flagge. Italien überwache die europäische Außengrenze und wolle nicht länger „der einzige Hotspot von Europa sein“.

Samstag, 7.00 Uhr, vor Lampedusa: Die 68 Jahre „Alan Kurdi“ trifft vor Lampedusa ein. Genauer gesagt, befindet sie sich 13 Seemeilen vor der kleinen Insel im Mittelmeer – eine Meile weiter und das Schiff wäre in italienischen Hoheitsgewässern.

Alsbald melden sich die Behörden per Funk. Später kommen die Zollbeamten der „Guardia di Finanza“ an Bord. Sie überbringen ein Dekret – Hafen wird geschlossen – und stellen Fragen. Wie viele Menschen, wie alt (39 sind Minderjährige), wie ist ihr Zustand, reichen Proviant und Wasser?

16.39 Uhr, Berlin: Seehofers Antwort geht in Rom ein. Es ist ein Brief, der unserer Redaktion vorliegt, zwei lange Seiten. „Die Rettung von Menschen vor dem sicheren Ertrinken ist eine humanitäre Pflicht, die wir nicht infrage stellen dürfen“, schreibt er. Deutschland sei bereit, viele der Menschen aufzunehmen, auch die Flüchtlinge, die vom italienischen Segelschiff „Alex“ aufgenommen worden waren, das in Lampedusa anlegt. Aufgrund der „unerträglichen hygienischen Situation“ an Bord sei es ein notwendiger Schritt gewesen, twittern die Seeretter.

21.02 Uhr, Rom: Salvini tobt. Auf die Bitte, die Häfen zu öffnen, antwortet er per Twitter: „Assolutamente NO“. Salvinis Lega-Partei will vorschlagen, die Strafe für Hilfsorganisationen, die trotz Verbots italienische Häfen ansteuern, von 50.000 auf eine Million Euro anzuheben.

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23.19 Uhr, vor Lampedusa:
An Bord analysiert Gorden Isler, der Vorsitzende der Hilfsorganisation Sea-Eye, die Lage: „Wir sind jetzt in einem Dreieck, wo es schwierig ist, jemanden zu finden, der sich für Menschen in Not verantwortlich fühlt“. Die libyschen Behörden stellten sich stundenlang tot, der Hafen in Lampedusa – gesperrt. Daraufhin dreht Kapitän Waldemar Mischutin bei. „Die „Alan Kurdi“ hat am Abend Kurs auf Malta genommen“, twittert die Organisation.

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Sonntag, 12.17 Uhr, an Bord: Es ist heiß an diesem Sonntag. Die See ist ruhig, vom Westen weht eine leichte Brise. „Wir haben fast Windstille“, erzählt Isler am Telefon. Die „Alan Kurdi“ fährt am Nachmittag mit 0,5 Knoten, etwa ein Kilometer pro Stunde, im westlichen Mittelmeer. Am Ortungsdienst „Marine Traffic“ kann man die Route verfolgen, seit es am Vorabend Kurs auf die Insel genommen hat.

12.25 Uhr, Berlin: Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), richtet schwere Vorwürfe gegen Italiens Regierung. Salvinis Vorgehen sei „unmenschlich, unverantwortlich und beschämend“, sagt sie unserer Redaktion. Er nehme den Tod Hunderter von Menschen in Kauf. Die kommissarische SPD-Chefin Manuela Schwesig mahnt eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge an. „Wir müssen das Drama im Mittelmeer umgehend beenden“, sagte sie unserer Redaktion „Das Geschachere um einzelne Rettungsboote und somit auch Menschenleben ist für Europa unwürdig“, fügte sie hinzu.

15.58 Uhr, an Bord: Das Wasser wird rationiert, nur noch alle zwei Tage darf geduscht werden. Die Hitze ist so groß, dass einige Leute kollabieren. „Wir haben hier gerade drei medizinische Notfälle“, simst Isler. Am Nachmittag erklärt sich Malta bereit, zunächst nur die kollabierten Migranten an Land zu lassen. Eine schnelle Lösung kann sich Isler zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen. „Diese Zuversicht trage ich nicht in mir“, sagt er.

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Wer verhält sich eigentlich richtig, wer falsch? Ohne Gerettete an Bord hätten sie keine Probleme. Nur aus einem Grund dürfen sie keinen Hafen anlaufen: weil sie Menschen vor dem Ertrinken gerettet hätten. Ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, ein maltesisches Schiff rettet in der Nordsee Menschen vor dem Ertrinken und die Behörden erklären, „bleibt außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone“. Man müsse die Situation bloß auf ein anderes Setting übertragen, meint Isler, dann werde seine Lage klar. Sie sei „völlig absurd“.

Hintergrund: Seenotrettung: Was dabei erlaubt ist – und was nicht

17.03 Uhr, Valetta: Die maltesische Marine hat 58 Flüchtlinge im Mittelmeer gerettet. Der Inselstaat nutzt die Gunst der Stunde für einen Deal. Er sieht vor, dass andere EU-Staaten die Hälfte von ihnen ebenfalls aufnehmen. In Berlin erklärt ein Sprecher des Innenministeriums unserer Redaktion, dass Deutschland von den nun zwei Rettungsschiffen je 15 bis 20 Migranten aufnehmen wolle.

20.19 Uhr, Berlin: Bundesinnenminister Horst Seehofer begrüßt, dass Malta den insgesamt 123 Migranten erlaubt, an Land zu gehen, und bekräftigt die Ankündigung, einen Teil der Geretteten aufzunehmen. „Im Geiste der europäischen Solidarität habe ich angeboten, dass wir uns hieran mit bis zu 40 Personen beteiligen“, lässt er auf Twitter über sein Ministerium verlauten: „Ich bin zufrieden, dass es gelungen ist, zügig eine Ausschiffung zu ermöglichen. Allerdings brauchen wir für diese Fälle jetzt schnell einen tragfähigen und funktionierenden Mechanismus. Daran müssen die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten mit Hochdruck arbeiten.“

21 Uhr, Malta:Der Sea-Eye-Sprecher berichtet auf Twitter, dass alle 65 Geretteten der „Alan Kurdi“ von Bord gehen und von Malta „direkt übernommen“ und „in Sicherheit“ gebracht werden. Die maltesische Armee teilt mit, dass 62 Menschen von der „Alan Kurdi“ an ein Patrouillenboot übergeben worden seien. Die drei Migranten, die dringend ärztliche Hilfe brauchten, waren schon vorher mit einem Lufttransport abgeholt worden.

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