Berlin. Der Stuttgarter „Tatort“ zeigt eine dunkle Seite der Pflege: Sexuelle Übergriffe durch die Patienten. Wie sieht es in der Realität aus?

Ein bettlägeriger Mann, der an einem Herzinfarkt stirbt. Ein pflegebedürftiger Senior, der den Folgen eines schweren Sturzes erliegt. Zwei scheinbar gewöhnliche Todesfälle aus dem Pflegealltag, die die Stuttgarter „Tatort“-Kommissare Lannert (Richy Müller)und Bootz (Felix Klare) zunächst daran zweifeln lassen, ob ihre Ermittlungen angemessen sind. Dass beide Tote von Pflegerin Anne Werner betreut wurden, scheint zunächst purer Zufall zu sein.

Als die Ermittler jedoch nach und nach Tagesabläufe und Patientenleben durchleuchten, wird ihnen klar, was Pflegenotstand wirklich bedeutet – und zu welch perfidem System aus finanziellen Nöten, Druck und sexuellen Übergriffen führen kann.

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Ihr Verdacht: Pflegerin Anne Werner wurde von den beiden Männern sexuell belästigt während sie sie wusch und sich um sie kümmerte. Auch die Pflegedienst-Leiterin bestätigt, solche Übergriffe seien „nicht ungewöhnlich, das komme vor“.

Sexuelle Übergriffe in der Pflege - ein verbreitetes Problem nicht nur im „Tatort“

Doch wie verbreitet sind solche Fälle im Pflegealltag wirklich? Eine Recherche des Online-Magazins BuzzFeed unter mehr als 150 Pflegekräften in Deutschland im vergangenen Jahr zeigte: sehr verbreitet. Mehr als 82 Prozent der Befragten gaben an, bei der Arbeit bereits sexuell belästigt worden zu sein. Betroffen sind vor allem Frauen.

Mehr noch: Vielerorts scheinen die Übergriffe Bestandteil des Berufsalltags zu sein. Die Betroffenen berichteten gegenüber dem Magazin von Patienten, die ihnen „bewusst in den Schritt gefasst haben“, oder sie aufgefordert hatten, bei der Intimpflege doch „noch länger zu schrubben“.

Studie: Mehr als zwei Drittel der Pflegenden sexuell belästigt

Das kann auch die Gesundheitspsychologin Claudia Depauli von der Pädagogischen Hochschule Salzburg nur bestätigen. Für ihre Studie zum Umgang mit Gewalt und sexuellen Übergriffen in der Pflege hat sie fast 3000 Angestellte befragt und kommt zu dem Ergebnis: Mehr als zwei Drittel von ihnen fühlen sich mindestens einmal im Jahr sexuell belästigt. 71 Prozent der weiblichen Pflegenden sei bereits ein Übergriff widerfahren, 47 Prozent der männlichen Kollegen.

Wie die Betroffenen mit solchen Fällen umgehen, sei dabei sehr unterschiedlich, so Depauli. Manche suchten das Gespräch mit ihrem Vorgesetzten. Einige erhielten dann gute Unterstützung, würden dann etwa nicht mehr dem Patienten zugeordnet. Andere hingegen fühlten sich von ihrem Chef nicht ernst genommen. „Stellen Sie sich nicht so an, das gehört zum Beruf der Pflege dazu, dass man sich manchmal sehr nahe kommt“, sei eine Reaktion, die viele Betroffene bereits erlebt hätten.

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Sexuelle Belästigung in der Pflege: Viele Betroffene schweigen aus Scham

Besonders einprägsam sei für die Gesundheitspsychologin etwa der Fall einer 28-jährigen Pflegekraft gewesen, die von einem Erlebnis während der Ausbildung berichtet. Ein männlicher Patient habe während der Intimrasur ejakuliert und anschließend „Danke“ gesagt. Als die Auszubildende die Schwestern um Hilfe bat, hätten die die Situation lustig gefunden, sich einen Spaß daraus gemacht.

„Vielen Betroffenen sind solche Situationen aber auch derart peinlich, dass sie sich an niemanden wenden“, erklärt Depauli. Wie stark dieses Gefühl sein kann, wird im Film an Pflegerin Anne Werner deutlich. Zwar schämt die sich nicht nur wegen der Belästigungen durch ihre Patienten. Es sind auch die sexuellen Gefälligkeiten, für die sie aus ihrer finanziellen Not heraus von ihren Patienten bezahlt wird. Doch auch über die vorausgegangen Anzüglichkeiten schweigt sie gegenüber ihrer Chefin, gibt sich als stets souveräne Arbeitskraft.

Ihre Scham, ihr Ekel und ihre Wut werden jedoch irgendwann so groß, dass sie keinen anderen Ausweg sieht, als ihre Patienten sterben zu lassen. Sie spart gezielt lebenswichtige Medikamente aus, eilt nach einem schweren Sturz nicht zu Hilfe. Doch bis zuletzt schweigt sie darüber, was passiert ist. Selbst als die Kommissaren ihr strafmildernde Umstände in Aussicht stellen.