Istanbul. Die Bürgermeisterwahl in Istanbul soll wiederholt werden. Ein Erdogan-Gegner hatte gewonnen. Auch am Dienstag gab es wieder Proteste.

Der Arm von Präsident Recep Tayyip Erdogan ist lang. Einen Tag nachdem das Hohe Wahlamt der Türkei die Abstimmung über den Oberbürgermeisterposten in Istanbul annulliert und eine Neuwahl angesetzt hatte, hat Erdogan Fakten geschaffen.

Er entmachtete das Ende März mit knapper Mehrheit gekürte Stadtoberhaupt Ekrem Imamoglu von der oppositionellen CHP-Partei. Die Bosporus-Metropole stellte er am Dienstag unter Zwangsverwaltung. Der Gouverneur der Region, Ali Yerlikaya, übernimmt bis zur Neuwahl am 23. Juni das Amt. Er steht der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP nahe, die in Istanbul 25 Jahre lang das Sagen hatte.

Proteste in mehreren Istanbuler Stadtteilen

Der einstweilen suspendierte Oberbürgermeister Imamoglu sprach vor Tausenden Anhängern in einem Park seines Wohnbezirks Beylikdüzü. „Ihr werdet sehen, wir werden gewinnen“, rief er. Die Menge skandierte: „Recht, Gesetz, Gerechtigkeit“.

Ein Anhänger von Imamoglu, Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) in Istanbul, auf einer Kundgebung in Istanbul.
Ein Anhänger von Imamoglu, Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) in Istanbul, auf einer Kundgebung in Istanbul. © dpa | Lefteris Pitarakis

Imamoglu appellierte zur Ruhe und Besonnenheit. Aber in mehreren Istanbuler Stadtteilen kam es in der Nacht zum Dienstag zu Protesten. Demonstranten machten mit Trillerpfeifen ihrem Unmut Luft, Menschen schlugen an den geöffneten Fenstern auf Töpfe und Pfannen.

Der Lärm weckte Erinnerungen an den Sommer 2013. Damals wurde aus einem kleinen Protest von Umweltschützern im Istanbuler Gezi-Park eine landesweite Welle von Demonstrationen, die Erdogan mit Polizeieinsätzen niederschlagen ließ.

Demonstranten riefen: „Schulter an Schulter gegen den Faschismus“

Auch am Dienstagabend gingen die Proteste gegen die Wahl-Annullierung weiter. Sie verliefen weitgehend friedlich, beobachtet von Polizei und Beamten in Zivil.

Demonstranten in Besiktas riefen zum Beispiel „das ist erst der Anfang, der Kampf geht weiter“ oder „Schulter an Schulter gegen den Faschismus“, berichtete eine dpa-Reporterin vor Ort. Auch die Rechtsanwaltskammer von Istanbul hatte für den späteren Abend zu einem Protest aufgerufen.

Durch das Viertel Kadiköy zogen einem Video des Onlinemediums Dokuz8Haber zufolge mehrere Hundert Menschen, die pfiffen und klatschten und Banner mit dem Slogan der Neuwahlkampagne trugen: „Alles wird gut“ (Her sey güzel olacak).

Seilschaften der AKP in Istanbul besonders dicht geknüpft

Für Erdogan hat Istanbul eine hohe symbolische Bedeutung. Hier wurde er geboren, hier verdiente er sich als Oberbürgermeister zwischen 1994 und 1998 die ersten politischen Sporen. „Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei“, lautet sein Wahlspruch.

Das Netzwerk der AKP, ihre Seilschaften: In Istanbul waren sie besonders dicht geknüpft. Das Milliarden-Budget der größten Stadt des Landes bot Erdogan und seiner Partei mannigfaltige Möglichkeiten, befreundete Unternehmer mit lukrativen Aufträgen zu fördern. In Istanbul verewigte sich Erdogan mit Mega-Projekten wie der dritten Bosporus-Brücke, dem neuen Flughafen und der größten Moschee der Türkei, die er erst vergangene Woche stolz eröffnete.

Doch viele Einwohner des Wirtschaftszentrums an der Grenze zu Europa sind eher nach Westen ausgerichtet. Der Verlust von Istanbul wäre für Erdogan mehr als der Verlust einer Stadt. Es wäre ein politisches Biotop für eine Gegenwelt zum autoritären Regierungsstil des Präsidenten. Deshalb will er hier ein Exempel statuieren.

Mit sieben zu vier Stimmen hatte die türkische Wahlkommission (YSK) am Montagabend das Ergebnis der Kommunalwahl in Istanbul vom 31. März annulliert. Imamoglu hatte den Urnengang zunächst knapp gegen den Kandidaten der Regierungspartei AKP, Binali Yildirim, gewonnen.

Ekrem Imamoglu hatte die Bürgermeisterwahl in Istanbul knapp gewonnen.
Ekrem Imamoglu hatte die Bürgermeisterwahl in Istanbul knapp gewonnen. © Reuters | MURAD SEZER

Mitte April ernannte die Wahlbehörde Imamoglu zum vorläufigen Sieger. Jetzt gab die Kommission dem Antrag der AKP auf Wiederholung der Wahl statt. Die Behörde stand unter großem Druck. Erst am Wochenende hatte Erdogan noch einmal eine Neuwahl gefordert.

AKP moniert: Wahlleiter waren keine Staatsbeamte

Zur Begründung der Entscheidung heißt es bei der Behörde, man habe festgestellt, dass zahlreiche örtliche Wahlleiter, anders als gesetzlich vorgeschrieben, keine Staatsbeamte waren. Doch das klingt fadenscheinig.

Denn dieselben Wahlleiter amtierten bereits bei den Parlamentswahlen und dem Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr. Damals nahm die AKP daran keinen Anstoß – weil sie die Abstimmungen gewonnen hatte.

Die türkische Opposition zeigt ungewohnte Geschlossenheit

Onursal Adigüzel, Vizechef der oppositionellen CHP, twitterte: „Gegen die AKP bei einer Wahl anzutreten, ist erlaubt, aber gewinnen ist verboten.“ Die Annullierung der Wahl sei „weder demokratisch, noch legitim – das ist schlicht und einfach eine Diktatur“.

Die türkische Opposition zeigt nach der Annullierung der Wahl ungewohnte Geschlossenheit. Mehrere kleinere Oppositionsparteien kündigten am Dienstag an, sie würden zu Imamoglus Gunsten darauf verzichten, bei der Neuwahl mit eigenen Kandidaten anzutreten.

Das könnte zwar dessen Chancen auf einen neuerlichen Sieg verbessern. Andererseits wird Erdogan alles daransetzen, Istanbul jetzt nicht ein zweites Mal zu verlieren. Am Bosporus beginnt nun wohl der härteste Wahlkampf aller Zeiten.

Analyse: Warum die Kommunalwahl keine Niederlage für Erdogan ist

Katarina Barley: „Annullierung der Wahl ist nicht nachvollziehbar“

In verschiedenen EU-Ländern hagelte es scharfe Kritik am Schritt Erdogans. Die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, sagte unserer Redaktion: „Freie Wahlen sind die wichtigste Voraussetzung für Demokratie. Die Annullierung der Wahl in Istanbul ist nicht nachvollziehbar.“ Ankara müsse erklären, was die Wiederholung der Wahl nötig machen soll.

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) forderte erneut das Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. „Wer demokratische Wahlen nicht akzeptiert, hat in der EU nichts verloren“, erklärte Kurz. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte, dass die Türkei auf absehbare Zeit wohl kein EU-Mitglied werde, die Beitrittsgespräche aber nicht einfach abgebrochen werden sollten.

Claudia Roth: Türkei wird unter Erdogan kein EU-Mitglied

Auch die Vizepräsidentin des Bundestags, Claudia Roth, warnte vor übereilten Reaktionen. „Selbstverständlich wird die Türkei unter der Willkürherrschaft eines Präsidenten Erdogan kein Mitglied der Europäischen Union werden“, sagte die Grünen-Politikerin unserer Redaktion.

Ein formaler Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen wäre aber „fatal, denn er würde eine Wiederannäherung in der Zeit nach Erdogan massiv erschweren, vielleicht sogar unmöglich machen“.

(Gerd Höhler)