Bangkok . In der größten Demokratie der Welt haben die Parlamentswahlen begonnen. In Indien ist vieles anders und vieles größer als anderswo.

Der 102 Jahre alte Shyam Sara Negi in einem kleinen Dorf nahe der Stadt Kalpa im Bundesstaat Himmel Pradesh ist nicht nur Indiens ältester Wähler. Er war 1951 auch einer der ersten Wähler des Landes. „Wir müssen dieses Gut unseres Wahlrechts bewahren”, sagt der Greis. 1951 durfte er gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern in seinem 3000 Meter hoch gelegenen Dorf nahe der Grenze zu China ein Jahr vor seinen Landsleuten an die Urne. Die Wahlkommission (ECI) fürchtete, dass Schnee und Eis sonst den damals 34-jährigen Mann um sein Wahlrecht bringen könnte.

Auch 68 Jahre später lässt Indiens Wahlkommission bei der gegenwärtigen Mammutwahl nichts unversucht, jedem der rund 900 Millionen Wahlberechtigten in 543 Wahlkreisen die Stimmabgabe zu ermöglichen. Der Einsiedlermönch Mahant Bharatdas Darshandas freut sich gar auf einen persönlichen Besuch von zwei Mitarbeitern der Wahlkommission und vier Polizisten. Sie schlagen sich - immer auf der Hut vor wilden Asiatischen Löwen - durch das Gebüsch des entlegenen Gir-Waldes im Bundesstaat Gujarat.

Die Richtlinien bestimmen, dass kein Wähler weiter als zwei Kilometer bis zu einem der eine Million Stimmlokale marschieren muss. Bharatdas Darshandas, der das Ende seines Barts mit einem Knoten beisammen hält, lebt freilich 120 Kilometer vom nächsten Stimmlokal entfernt lebt. So muss die insgesamt fünf Millionen Mitarbeiter zählende Wahlkommission eben die Wahlurne zum Wähler bringen. Komplizierte Organisation, schwierige Wege und schiere Wählermassen machen Indien nicht nur zur größten, sondern auch einer der teuersten Demokratien dieser Welt.

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    Die Wahl kostet 550 Millionen Euro. Die Logistik ist so schwierig, dass der Urnengang über sechs Wochen gestreckt wird. Doch bei der letzten Parlamentswahl 2014 rafften sich ganze 66 Prozent der Wahlberechtigten zum Gang an die Urnen auf. Darunter befanden sich auch Millionen von Scheinwählern, deren Wahlkarten teilweise bereits vor Jahrzehnten von einflussreichen Politikern kassiert und bei jedem Urnengang eingesetzt werden.

    „Ich werde wahrscheinlich mindestens zwei Mal wählen”, sagt ein junger Mann 2014 dieser Zeitung, „einmal gehe ich selbst und das zweite Mal wird irgendjemand in meinem Heimatdorf in meinem Namen ein Kreuz machen.” Trotz solcher Unregelmäßigkeit zweifeln nur wenige Inder die Glaubwürdigkeit des Urnengangs an. „Leuten, die nicht wählen, sollten die Lebensmittelkarten für billige Nahrungsmittel weggenommen werden”, sagt der Hindu-Mönch Darshandas in seiner Urwald-Enklave und verkündet gleich die Zukunft: „Ich werde für Premierminister Narendra Modi stimmen und er wird wieder an die Macht kommen.”

    Indiens Sadhus und Mahands, so Hindi-Namen für Mönche, stehen bis auf ganz wenige Ausnahmen wie eine Wand hinter dem hindunationalistischen Regierungschef und seiner Partei „Bharatiya Janata Party” (BJP). Prominentester Vertreter: Yogi Adityanath, von der BJP zum Ministerpräsident in Indiens bevölkerungsreichstem Bundesstaat Uttar Pradesh ernannt. Der Mönch bezeichnete Mutter Theresa einmal als „Teil der Verschwörung, um Indien zu christianisieren“.

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      Adityanath und andere hindunationalistische Fanatiker der BJP nutzten die Jahre unter Premierminister Modi, um den Vielvölkerstaat Indien zu polarisieren wie nie zuvor. Muslime, rund 14 Prozent der 1,3 Milliarden Einwohner, wurden als „Kuhmörder” diffamiert. Der Grund: Die Hindunationalisten erzwangen in mehreren Teilen Indiens ein Schlachtverbot von Rindvieh, weil Kühe von Hindus als heilig betrachtet werden. Indiens florierende Rindfleischexportindustrie befindet sich wiederum weitgehend in Händen indische Muslime. Selbsternannte Kuh-Vigilanten griffen gar zur Lynchjustiz.

      „Polarisierung statt Wohlstand” lautet auch das Fazit, das viele Inder Angesicht der vergangenen fünf Jahre unter Modi ziehen. Viele Versprechen, die dem Hindunationalisten 2014 zu einem Erdrutschsieg verhalfen, erwiesen sich als leere Luft. Das folgenreichste Versäumnis: Modi hatte den vielen jungen Indern Arbeitsplätze versprochen. Fünf Jahre später sieht die Lage laut Regierungszahlen schlimmer aus als vor fünf Jahren. Der Versuch, alle im Umlauf befindlichen Geldnoten des Landes binnen kurzer Zeit in neue Noten umzuwandeln, bleibt unvergessen. Die meisten Inder mussten anschließend wochenlang Schlange stehen, um wieder an Bargeld zu gelangen.

      Die BJP versucht, mit massiven Kampagnen gegen zu halten. Selbst der Konflikt der Atommacht Indien mit dem ewigen Feind Pakistan, der wie Delhi über 130 bis 150 Atomsprengköpfe verfügt, muss im Wahlkampf herhalten. Abhinandan Varthaman, der mit seinem altersschwachen, aus Russland stammenden MIG 21 bei einem Luftkampf im pakistanischen Luftraum abgeschossen wurde und inzwischen nach Indien zurückkehrte, wird von der Regierung als Nationalheld gefeiert. Modi wirft Pakistan vor, hinter Terroranschlägen zu stecken. Doch sein Versuch, das Thema zur Wählermobilisierung zu nutzen, interessiert allenfalls die Mittelklasse.

      Viele der 432 Millionen Frauen haben ganz andere Sorgen. „Wir haben nur eine Schule für Mädchen bis zur achten Klasse”, sagt die 55-jährige Großmutter Asia, die täglich ihre sechs- und siebenjährigen Enkelinnen in Puhana, einem Dorf rund 120 Kilometer südlich der Hauptstadt Delhi, zur Schule bringt, „die Lehrer kommen nur, wenn sie Lust haben. Wenn die Mädchen auf eine weiterführende Schule wollen, müssen sie ins nächste Dorf. Wer kann da für ihre Sicherheit sorgen?”

      (Willi Germund)