Brüssel. Nach dem Nein des Parlaments zum EU-Ausstieg ohne Regeln ging es am Donnerstag weiter. Nun stimmte es gegen ein zweites Referendum.

Die Briten ziehen die Notbremse im Brexit-Drama: Großbritannien will offiziell seinen Austritt aus der Europäischen Union verschieben. Das beschloss das britische Parlament am Donnerstagabend mit großer Mehrheit – nur zwei Wochen vor dem geplanten Brexit am 29. März ist dieser Termin plötzlich hinfällig.

Dem Rückzieher müssen die Regierungschefs der anderen 27 EU-Staaten bei einem Gipfeltreffen nächsten Donnerstag noch zustimmen, das gilt aber trotz einzelner Bedenken als sicher. Mit dem beispiellosen Schritt soll der befürchtete Chaos-Brexit abgewendet werden, nachdem der Austrittsvertrag zweimal im Unterhaus gescheitert war.

Doch chaotisch ist die Lage auch jetzt: Wann Großbritannien die Union verlässt, ist ungewiss. In der EU gilt eine Verschiebung des Austritts um ein Jahr oder länger inzwischen als ernsthafte Option – möglicherweise bleiben die Briten am Ende sogar EU-Mitglied.

Deutsche Wirtschaft warnt vor Unsicherheit

Die deutsche Wirtschaft warnt schon vor lang anhaltender Unsicherheit: „Die Unternehmen wissen jetzt überhaupt nicht mehr, auf was sie sich vorbereiten sollen“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Martin Wansleben, unserer Redaktion.

Für den von der Regierung vorgelegten Vertagungs-Antrag stimmten im Unterhaus am Abend 412 Abgeordnete, 202 votierten dagegen. Eine große Mehrheit lehnte zugleich einen Antrag ab, ein zweites Referendum vorzubereiten; doch ist eine neue Volksabstimmung zum Brexit mit diesem Probelauf noch nicht vom Tisch.

Nach dem Beschluss wird über zwei Optionen diskutiert: Premierministerin Theresa May will eine kurze Verschiebung, sie hat den 30. Juni als spätesten Termin genannt. Das gilt auch aus EU-Sicht als relativ unproblematisch, wenn Großbritannien in dieser Zeit einen vertraglich geregelten Brexit doch noch ordentlich über die Bühne bekommt. Das ist Mays Ziel. Sie will nächste Woche erneut versuchen, den Scheidungsvertrag doch noch durchs Parlament zu bringen.

EU-Austritt doch erst Ende 2020?

May will Kritiker in ihrer konservativen Tory-Fraktion quasi mit einer Erpressung zum Ja zwingen: Werde der Vertrag wieder abgelehnt, müsse bei der EU eine Brexit-Verschiebung um viele Monate beantragt werden, warnt sie. Die Briten müssten dann an den Europawahlen teilnehmen – für viele EU-Gegner auf der Insel eine Horrorvorstellung. Dass diese Drohung genügt, um eine Mehrheit für den Austrittsvertrag zu erreichen, ist möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.

Auch die Chancen, dass Pro-EU-Kräfte zügig einen Soft-Brexit als Alternative zum ausgehandelten Vertrag im Parlament durchsetzen, sind nicht groß. Deshalb wird in Brüssel zunehmend mit der radikalen Alternativ-Variante kalkuliert: Eine längere Verschiebung mindestens bis Ende 2019 soll die Selbstblockade in London auflösen.

Der irische Außenminister Simon Coveney brachte sogar schon einen Brexit erst Ende 2020 ins Spiel. Voraussetzung: Die Briten müssten zusichern, dass sie die Zeit sinnvoll nutzen, etwa für ein neues Referendum oder Neuwahlen. EU-Ratspräsident Donald Tusk warb am Mittwoch bereits nachdrücklich für diesen längeren Aufschub – die Rede ist von einem Jahr. Tusk will den EU-Regierungschefs beim Gipfel nächste Woche diese Variante empfohlen.

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Experte: Zweites Referendum ist kein Allheilmittel

May hat sich bislang gegen eine lange Vertagung ausgesprochen, wahrscheinlich hat sie aber nach einer Niederlage nächste Woche keine andere Wahl mehr. Die Hoffnung bei vielen EU-Politikern in Brüssel und bei Pro-EU-Kräften in London richtet sich auf ein zweites Brexit-Referendum – das den Austritt stoppen könnte.

Allerdings: Der Brexit-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Nicolai von Ondarza, warnt in einer Analyse: „Ein zweites Referendum ist weder leicht zu erreichen noch ein Allheilmittel“. Die Vorbereitungen benötigen nach britischen Schätzungen mindestens ein halbes Jahr, die Umsetzung noch einmal mehrere Monate. Bestätigen die Briten den Austritt, könnte der frühestens Ende 2019 vollzogen werden.

Für ein zügiges Verfahren wäre klare Unterstützung durch die Regierung und eine stabile parlamentarische Mehrheit nötig; beides ist bislang nicht in Sicht. Und der Ausgang des Referendums ist völlig offen, Umfragen sagen weiter einen knappen Ausgang voraus.

Briten nehmen wohl an EU-Parlamentswahl teil

Wegen dieser Unwägbarkeiten wiegt ein anderes Problem schwer: Die Briten müssten, obwohl ihr Austrittswunsch weiter gilt, wohl oder übel an der EU-Parlamentswahl vom 23. bis 26. Mai teilnehmen. Ihre 73 Abgeordneten wären eine der größten Gruppen im Parlament, würden bei vielen Entscheidungen zum Zünglein an der Waage – auch bei der Wahl der Präsidenten von Kommission und Parlament.

Verlässt Großbritannien einige Monate später doch die EU, wären wichtige Parlamentsentscheidungen im Nachhinein mit Zweifeln behaftet. Die gewählten EU-Spitzen hätten ein Autoritätsproblem. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nennt eine britische Teilnahme an der Wahl einen „Witz der Geschichte“, der EVP-Brexit-Experte Elmar Brok spricht von einer „Lachnummer“.

In der deutschen Wirtschaft sieht die Vertagung aus anderen Gründen skeptisch: „Ohne eine Einigung auf das Austrittsabkommen fischen die deutschen Unternehmen weiterhin im Trüben“, sagt DIHK-Hauptgeschäftsführer Wansleben. „Neben der Unsicherheit, was überhaupt geschehen wird, kommt jetzt die Unsicherheit hinzu, wann es geschehen wird.“

Schon jetzt habe in einer DIHK-Umfrage nur noch jedes fünfte Unternehmen mit Beziehungen zum Vereinigten Königreich diese Geschäfte als gut bezeichnet. „Von einem Aufatmen“, sagt Wansleben nach der Entscheidung im Unterhaus, „kann schon wieder keine Rede sein.“