Algier/Tunis. Hunderttausende protestieren gegen den greisen Staatschef Bouteflika und die korrupte Machtelite. Vor allem die Jungen sind wütend.

Das Volk macht sich Luft. „Algerien – frei und demokratisch“ und „Nein zu einer fünften Amtszeit“, skandiert die unübersehbare Menschenmenge, während über ihren Köpfen Polizeihubschrauber kreisen. Eine junge Frau reckt ein Plakat mit der Forderung „Weg mit dem System“ in die Höhe.

Auch am dritten Freitag in Folge strömen in Algier und allen größeren Städten des nordafrikanischen Landes wieder die Massen zusammen, obwohl die Sicherheitskräfte diesmal den gesamten öffentlichen Nahverkehr blockieren. Hunderttausende sind auf den Beinen, ein Aufbegehren gegen die korrupte Machtelite, das an die enthusiastischen Anfänge des Arabischen Frühlings in Tunesien, Ägypten und Libyen Ende 2010 und Anfang 2011 erinnert.

Slogans wie 2011: „Das Volk will den Sturz des Regimes“


„Ein Wind des Zorns bläst durch das Land“, titelt die Tageszeitung „El Watan“. Auch der berühmte Slogan von 2011 „Das Volk will den Sturz des Regimes“ schallt durch die Straßen. „Die Mauer der Angst ist gefallen“, jubelt der bekannte Schriftsteller Kamel Daoud aus Oran. „Wir haben dieses Leben satt“, brüllen inzwischen sogar die Fans bei Ligaspielen in den Fußballstadien. Bis zum frühen Freitagabend bleibt alles friedlich.

Rund um den Platz vor der Großen Post, dem Wahrzeichen von Algier, einem opulenten Kolonialbau von 1910, sind massive Einsatzkräfte mit Wasserwerfern aufmarschiert, während der greise Abdelaziz Bouteflika seine Landsleute vom fernen Genf aus vor „Chaos“ und der Rückkehr „einer nationalen Tragödie“ warnte.

Staatsoberhaupt seit zwei Wochen zur „Routineuntersuchung“

Seit zwei Wochen hält sich das Staatsoberhaupt an der dortigen Uniklinik zu einer „kurzen Routineuntersuchung“ auf. Seit der Palast am 10. Februar in einem seitenlangen Kommuniqué ausrufen ließ, der von einem Schlaganfall gezeichnete Präsident werde am 18. April für eine fünfte Amtszeit kandidieren, kocht die Volksseele. Letzten Sonntag wichen Bouteflika und sein eiserner Machtzirkel angesichts der Proteste erstmals einen Schritt zurück.

Falls die Algerier ihm am 18. April zum fünften Mal das Vertrauen schenkten, ließ er im Fernsehen verlesen, werde er vorzeitig abtreten und einen Nationalkongress einberufen. Dieser solle die Verfassung novellieren, „einen Systemwechsel“ einleiten, den Öl-Reichtum gerechter verteilen und Neuwahlen ohne ihn organisieren – allesamt wolkige Versprechen, die das aufgebrachte Volk nur weiter provozierten.

Vor allem die Jungen unter 30 Jahren, die 22 der 42 Millionen Einwohner ausmachen, haben genug von den obskuren Ränkespielen ihrer Mächtigen. „Unser Land ist zur Lachnummer des Globus geworden“, sagen sie, die ihren Präsidenten seit Jahren nur noch als ein Phantom erleben.

Abdelaziz Bouteflika kommuniziert kaum mit der Öffentlichkeit

Mit der Öffentlichkeit kommuniziert Abdelaziz Bouteflika, wenn überhaupt, nur noch schriftlich. Die wenigen Fernsehbilder zeigen ihn im Rollstuhl, ein gebeugter Greis mit offenem Mund und glasigen Augen, der vor sich hinstarrt und sich kaum noch artikulieren kann. Bouteflikas letzte Rede liegt sieben Jahre zurück. „Meine Generation hat ihre Aufgabe erfüllt“, rief er damals im Mai 2012 im Sportpalast der Stadt Setif dem Publikum zu.

„Ihr Jungen müsst die Fackel übernehmen“ – einen Satz, den er dreimal wiederholte. Doch daraus wurde nichts. 2014 kandidierte Bouteflika, der in seinen aktiven Jahren selbst in der größten Sahara-Hitze stets im tadellosen Anzug auftrat, erneut für das höchste Staatsamt. Ohne einen einzigen Wahlkampfauftritt wurde er mit 81,5 Prozent der Stimmen gewählt. Inzwischen steht der 82-Jährige 20 Jahre an der Spitze des ölreichen Mittelmeeranrainers.

Sein größter Verdienst war die Beendigung des Bürgerkrieges, der in den „dunklen Jahren“ von 1992 bis 2000 mehr als 150.000 Menschen das Leben kostete.

Algerien ist massiv abgeschottet, Tourismus quasi nonexistent

Algerien gehört zu den am stärksten abgeschotteten Nationen der arabischen Welt. Westliche Journalisten bekommen fast nie Visa, Tourismus gibt es nicht. Der nationale Haushalt speist sich nahezu ausschließlich aus den Öl- und Gasmilliarden.

Eine nennenswerte nationale Industrie existiert nicht, weil mächtige Import-Barone um ihre Pfründe fürchten. Es fehlt an Arbeitsplätzen und Wohnungen. Und alle wissen, dass ein Großteil der Einnahmen aus den Bodenschätzen spurlos versickern – durch Korruption, Selbstbereicherung und öffentliche Verschwendung.

Und so versuchen Oppositionspolitiker wie Ex-Premier Ali Benflis derzeit, mit Verweis auf die Verfassung einen Ausweg aus der brisanten Staatskrise zu suchen, in die sich Algeriens Machtelite durch die fünfte Boute­flika-Kandidatur hineinmanövriert hat.

Präsident müsste für amtsunfähig erklärt werden

Dazu müsste der zwölfköpfige Verfassungsrat, in dem allerdings palasttreue Kräfte die Mehrheit haben, nach Artikel 102 den Präsidenten aus gesundheitlichen Gründen für amtsunfähig erklären. Für eine Übergangszeit von 90 Tagen wäre dann der Sprecher des algerischen Oberhauses, Abdelkader Bensalah, provisorischer Staatschef.

Er könnte den Wahltermin vom 18. April in den Sommer verschieben und das politische Ringen um die Nachfolge Bouteflikas und damit den Generationswechsel an der Staatsspitze neu organisieren. Grollend schaltete sich diese Woche erstmals auch die Armeeführung in die eskalierenden politischen Spannungen ein.

Es gebe Kräfte, die wollten in das „dunkle Jahrzehnt“ des Bürgerkriegs zurück, orakelte Generalstabschef Ahmed Gaid Salah. Er warnte das Volk, es müsse wissen, wie man sich „in einem solchen speziellen Kontext“ zu benehmen habe. Er jedenfalls werde „die Sicherheit und Stabilität Algeriens“ garantieren. Die Antwort seiner aufmüpfigen Landsleute am Freitag erfolgte postwendend.

„Friedlich, friedlich“, riefen die Menschen in den Straßen.