BRÜSSEL. EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani spricht über den Brexit, Viktor Orbán, den Handelsstreit mit den USA – und: eine zweite Amtszeit.

Er ist frisch von einer Reise in die USA zurück – und bereitet sich auf eine Schicksalswoche mit drei Brexit-Abstimmungen im britischen Unterhaus vor. Kurz vor 19 Uhr trifft Antonio ­Tajani auf der Präsidialebene des EU-Parlaments in Brüssel ein. Sein Terminplan ist im Verzug, doch vor dem Interview nimmt sich der Parlamentspräsident noch ein paar Minuten für ein Telefonat mit seinem Sohn. Familie geht für den Italiener vor.

Europa stehen dramatische Wochen bevor. Ist der Austritt der Briten noch abzuwenden?

Antonio Tajani: Die britische Regierung sagt: Wir wollen gehen. Aber die Mehrheit der Bevölkerung sagt: Wir wollen bleiben. Das zeigen alle Umfragen. Ich wäre sehr glücklich, wenn die Briten in der EU blieben.

Hoffen Sie auf eine neue Volksabstimmung?

Tajani: Es geht jetzt darum, den allergrößten Fehler zu vermeiden: einen chaotischen Brexit ohne vertragliche Regelung. Das wäre ein Desaster für die britische Wirtschaft und schädlich auch für uns. Die EU ist einig, doch die Briten sind gespalten. Jeremy Corbyn, der Chef der Labour-Partei, will ein weiteres Referendum – aber nicht über den Brexit an sich, sondern nur über seine Form.

Kann die EU den Briten noch entgegen­kommen?

Tajani: Wir können die politische Erklärung zum Brexit vielleicht etwas klarer formulieren. Es ist aber völlig unmöglich, den Inhalt des Scheidungsvertrags noch zu verändern – schon gar nicht in der Nordirland-Frage. Wir brauchen eine flexible Lösung für die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Die Errungenschaften des anglo-irischen Karfreitagsabkommens dürfen nicht gefährdet werden, sonst droht neue Gewalt.

Läuft es auf eine Verschiebung des Brexits hinaus?

Tajani: Darüber stimmt das britische Parlament in der kommenden Woche ab. Ich bin der Überzeugung: Das Austrittsdatum kann höchstens um einige Wochen verschoben werden – von Ende März auf maximal Anfang Juli. Dann tritt das neu gewählte Europäische Parlament zusammen. In jedem Fall müssen uns die Briten einen Grund für eine Verschiebung nennen– etwa, dass sie diese Zeit für Neuwahlen oder ein neues Referendum nutzen wollen. Sie haben sich entschieden zu gehen. Das ist ihr Problem, nicht unseres.

Halten Sie es für möglich, dass weitere Länder – etwa in Osteuropa – die EU verlassen?

Tajani: Ich denke, das ist unmöglich. Das Beispiel der Briten wird als Abschreckung dienen. Wir müssen die Europäische Union verändern. Aber wir müssen zusammenbleiben.

Wie bewerten Sie die antieuropäischen ­Tiraden des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán?

Tajani: Viktor Orbán führt Wahlkampf. Über seine Kampagne gibt es eine Debatte zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb der christdemokratischen Parteienfamilie. Es wird eine Abstimmung geben, ob Orbáns Fidesz-Partei die EVP verlassen muss.

Ihre Partei – Forza Italia – ist ebenfalls Teil der EVP. Wie werden Sie sich verhalten?

Tajani: Als Präsident des Europäischen Parlaments verhalte ich mich neutral. Nur zwölf EVP-Mitgliedsparteien aus neun Staaten haben sich dafür ausgesprochen, Orbán hinauszudrängen. Forza Italia gehört nicht dazu.

Spitzenkandidat der EVP für die Europawahl ist der CSU-Politiker Manfred Weber. Wird er automatisch Nachfolger von Jean-Claude Juncker an der Spitze der EU-Kommission, wenn die EVP die Wahl gewinnt?

Tajani: Die Entscheidung der Bürger in Europa ist zu respektieren. Wenn Manfred Weber mit der EVP stärkste Kraft wird, muss er natürlich auch Kommissionspräsident werden. Das sind wir der europäischen Demokratie schuldig.

Der französische Präsident Emmanuel ­Macron hat den Europawahlkampf mit einem dramatischen Appell eröffnet. „Wir dürfen nicht Schlafwandler in einem erschlafften Europa sein“, warnte Macron und forderte die Einberufung einer Europakonferenz, die grundlegende Reformen erarbeiten soll. Unterstützen Sie ihn dabei?

Tajani: Ich stimme Macrons Botschaft zu: Europa muss sich verändern. Ich teile allerdings nicht alle seine Positionen. Für mich ist entscheidend, dass das Europä­ische Parlament mehr Macht bekommt und dass wir den EU-Haushalt aufstocken. Und wenn wir auf der Weltbühne ernst genommen werden wollen, brauchen wir eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Verteidigungspolitik. Wir haben darüber genug geredet. Jetzt müssen wir handeln.

Hintergrund: Emmanuel Macron will Europa retten – mit diesen Reform-Ideen

Macrons Ideen reichen von einem euro­päischen Mindestlohn bis zu einer europä­ischen Asylbehörde. Was stört Sie daran?

Tajani: Ich verteile jetzt keine Schulnoten für die einzelnen Vorschläge. Wir brauchen nicht überall mehr Europa – vieles lässt sich besser auf der nationalen Ebene regeln. Es ist richtig, Druck zu machen. Aber die Debatte, die Macron einfordert, wird längst geführt. Das wichtigste Ziel der Europäischen Union ist nach meiner Überzeugung der Schutz jedes einzelnen Bürgers – etwa vor illegaler Einwanderung.

In der Asyl- und Flüchtlingspolitik geht es in der EU kaum voran.

Tajani: Ja, das macht mich richtig wütend. Die Staats- und Regierungschefs haben viel zu wenig bewegt. Die Asylregeln von Dublin müssen dringend reformiert werden, aber die Visegrád-Staaten – also Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn – blockieren eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge. Dabei haben auch sie nach dem Ende der Sowjetunion die Solidarität des Westens erfahren. Jetzt ist die Zeit gekommen, dass die Osteuropäer helfen müssen. Solidarität ist ein Prinzip, das jeden Tag gilt – und nicht nur, wenn es einem nutzt.

Eine besonders harte Flüchtlingspolitik betreibt Ihr Heimatland Italien, seit Rechts- und Linkspopulisten in Rom regieren. Flüchtlingsboote werden zurück aufs Meer geschickt.

Tajani: Der Schlüssel liegt in Afrika. Ohne eine Lösung auf dem afrikanischen Kontinent werden Millionen Flüchtlinge nach Europa kommen. Ich habe einen ­Marshallplan für Afrika vorgeschlagen, um Terrorismus, Bürgerkrieg, Armut und die Folgen des Klimawandels zu bekämpfen. Es wäre ein großer Fehler, ­Afrika den Chinesen zu überlassen. Wir müssen dort mindestens genauso viel investieren. Wir brauchen eine europä­ische Strategie für Afrika.

US-Präsident Donald Trump versucht, Chinesen und Europäern gleichermaßen die Stirn zu bieten – mit den Waffen eines Handelskriegs. Sie sind vor ein paar Tagen aus den USA zurückgekehrt. Sind Strafzölle auf deutsche Autos noch abzuwenden?

US-Präsident Donald Trump.
US-Präsident Donald Trump. © Reuters | JONATHAN ERNST

Tajani: Das Ziel meiner US-Reise war, an einer Lösung im Handelsstreit zu arbeiten. Die USA und Europa haben das gleiche Pro­blem – es heißt China. Dabei geht es um Überproduktion von Stahl genauso wie um Diebstahl geistigen Eigentums. Es wäre ein großer Fehler, wenn die USA nun einen Handelskrieg gegen Europa führen und Strafzölle auf Autos erheben würden.

Ich bin optimistischer als vor meiner Reise. Es gibt aber noch keine Lösung. Ich rate den Europäern, im Umgang mit den USA ihre Körpersprache zu ändern. Es geht nicht um eine Aufweichung der europäischen Position. Aber wir sollten nicht aggressiv oder arrogant mit Donald Trump und seiner Regierung umgehen. Wir müssen einfach reden.

Der europä­ische Beamte neigt leider zur Arroganz. Er ist zu sehr Professor. Das führt selten zu guten Ergebnissen. Ich bin lieber ­höflich, ohne dabei meine Position zu verändern. Wir müssen Präsident Trump begreiflich machen, dass es auch für ihn am besten ist, wenn Amerika und Europa an einem Strang ziehen. China spielt nicht nach den Regeln der Welthandelsorganisation. China ist die gemeinsame Gefahr.

Ihre Amtszeit als Parlamentspräsident ­endet im Sommer. Wo sehen Sie Ihre Zukunft – in der europäischen oder in der italienischen Politik?

Tajani: Als ich noch Journalist war, habe ich ­diese Frage einem wichtigen italienischen Christdemokraten gestellt. Er gab eine weise Antwort: Es ist wichtig, am Tisch zu bleiben. (lacht)

Streben Sie eine weitere Amtszeit als Parlamentspräsident an?

Tajani: Wenn die EVP auch nach der Europawahl den Präsidenten stellt, werde ich mich wieder um das Amt bewerben.