London/Berlin. Jeremy Corbyn steht für das, was seine Labour Party nie war: Er ist EU-kritisch und setzt sich dem Verdacht des Antisemitismus aus.

Als Jeremy Corbyn, der weißhaarige Mann mit dem zerknitterten Gesicht, im Mai 2015 zum Chef der britischen Labour Party gewählt wurde, staunte die ganze Nation. Keiner hatte den Hinterbänkler auf dem Zettel. Der heute 69-Jährige wetterte gegen das politische Establishment und den eisernen Sparkurs der regierenden Konservativen. Vor allem mit stramm linken Sprüchen elektrisierte er die Basis seiner Partei.

So forderte er einen massiven Ausbau des Sozialstaats, machte sich für den Austritt Großbritanniens aus der Nato stark und wollte das nationale Atomwaffenarsenal verschrotten. Und plötzlich hatten sozialistische Ladenhüter wie die Verstaatlichung von Eisenbahn, Energiekonzernen und Post Hochkonjunktur.

Der Posten des Premiers schien nur eine Frage der Zeit

Die Altvorderen von Labour wie der ehemalige Premier Tony Blair hatten vor dem Wahlsieg Corbyns gewarnt – das werde die Partei vernichten. Vergeblich. Plötzlich war der Studienabbrecher der neue Hoffnungsträger und wurde als politischer Rockstar bejubelt. Nicht nur in der Heimat, auch bei den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien auf dem europäischen Kontinent versprühte der spröde Brite neue Zuversicht.

Als er bei den Parlamentswahlen im Sommer 2017 für Labour sogar 40 Prozent der Stimmen und 30 Abgeordnete mehr holte, schien der Posten des Regierungschefs nur eine Frage der Zeit. Er sorgte für einen Massenansturm bei Labour, die zur größten Partei Westeuropas wurde.

Corbyn ließ Kampfgeist für Europa vermissen

Doch auf einmal war der Höhenflug zu Ende. Der Senkrechtstarter stürzte ab. Dies lag vor allem an seiner wachsweichen Position zu Europa. Im Juni 2016 habe er für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt, sagte er später. Doch er ließ jedweden Kampfgeist für Europa vermissen. Er zauderte, lavierte und überließ den schrillen Befürwortern eines harten Brexits die Bühne.

Plötzlich war er nicht mehr klar und kantig, sondern nebulös und unberechenbar. Er wolle das Ergebnis der Volksabstimmung, die eine knappe Mehrheit für den EU-Ausstieg ergab, akzeptieren, erklärte Corbyn.

Corbyn wollte keine Brexit-Wähler verärgern

Gleichzeitig sprach er sich dafür aus, dass Großbritannien Mitglied der EU-Zollunion bleibe – mehr nicht. Ihm schwebte eine eigenständige Wirtschaftspolitik vor. Unternehmen sollten die Möglichkeit erhalten, Staatshilfen ohne verpflichtende Vorgaben aus Brüssel zu bekommen. Zudem plädierte der Labour-Mann dafür, die europaweite Freizügigkeit von Arbeitnehmern zumindest teilweise einzuschränken.

So lehnte Corbyn zum Beispiel die Entsendungsrichtlinie ab, weil sie in Großbritannien zu Lohndumping führe. Andere Abgeordnete verlangten, dass sich Corbyn für ein zweites Referendum einsetze, in dem die Option zum Verbleib in der EU zur Wahl stehe. Doch der Labour-Chef zuckte vor dieser Variante zurück. Er mochte keine Brexit-Wähler verärgern.

In Brüssel sorgte Corbyn für Verwirrung

Sein Eiertanz ist taktisch begründet: Er will sich einerseits alle Möglichkeiten offenhalten und andererseits sicherstellen, dass der EU-Ausstieg auf das Konto der Konservativen geht. So kommt es, dass aus Corbyn ein Weder-Fisch-noch-Fleisch-Politiker wurde. Auch bei seinem Treffen mit dem EU-Chefunterhändler für den Brexit, Michel Barnier, am Donnerstag in Brüssel sorgte er eher für Verwirrung.

Der Labour-Vorsitzende trat für eine dauerhafte Zollunion und eine Anbindung Großbritanniens an den EU-Binnenmarkt ein. Allerdings wäre dies genau die von Brexit-Hardlinern verpönte dauerhafte Bindung an die Gemeinschaft.

Kritiker werfen Corbyn Antisemitismus vor

Premierministerin Theresa May lehnt das mit Blick auf den Brexit-Flügel ihrer Partei ab. Corbyn fordert hingegen, May müsse ihre roten Linien aufgeben. „Die Gefahr eines No-Deal-Austritts aus der EU ist für Großbritannien sehr ernst und sehr präsent“, betonte er.

Die Wackelposition beim Thema Europa ist nicht Corbyns einzige Angriffsfläche. In letzter Zeit häufen sich Antisemitismus-Vorwürfe. Er trete mit Vertretern von radikalislamischen Organisationen wie Hamas oder Hisbollah auf, die beide das Existenzrecht Israels infrage stellen, werfen ihm seine Kritiker vor.

Offener Brief kritisierte zu große Nähe zu Hamas und Hisbollah

Als Jeremy Corbyn 2015 zum Labour-Chef wurde und die Partei deutlich nach links rückte, begannen die Ängste innerhalb der jüdischen Gemeinde in Großbritannien. Judenfeindliche Vorfälle oder antisemitische Äußerungen von Partei-Aktivisten häuften sich.

Im Frühjahr 2018 kritisierte ein offener Brief von jüdischen Dachorganisationen, dass Corbyn eine zu große Nähe zu Hamas und Hisbollah habe. Israel werde als ein weißes, neo-kolonialistisches Volk gesehen, das die Palästinenser unterdrücke und gemeinsame Sache mit den imperialistischen USA mache.

Labour-Komitee hatte andere Auffassung von Antisemitismus

Als das Labour-Präsidium im Sommer 2018 entschied, eine international gebräuchliche Antisemitismus-Definition nicht vollständig übernehmen zu wollen, eskalierte der Fall. Die Internationale Allianz für das Gedenken an den Holocaust (IHRA) hatte eine Definition für Antisemitismus mit elf Beispielen vorgelegt, die von vielen Regierungen akzeptiert wird.

Labours National Executive Committee (NEC) dagegen wollte vier von der IHRA als antisemitisch bezeichnete Beispiele nicht anerkennen. So soll es nach NEC-Sicht nicht judenfeindlich sein, wenn man aktuelle israelische Politik mit der der Nazis vergleicht oder die Existenz des israelischen Staates für ein rassistisches Unterfangen hält.

Nach heftigen innerparteilichen Diskussionen wurde auf dem Labour-Parteitag im September die Definition übernommen.

Doch Corbyns Macht erodiert. Seine Führungsschwäche bei den Themen Brexit und Antisemitismus hat in dieser Woche zur Abspaltung von acht Labour-Abgeordneten geführt. Es werden vermutlich nicht die letzten sein.