Berlin . Der Vatikan hält erstmals eine große Missbrauchskonferenz ab. Sie soll helfen, das Vertrauen zurückzugewinnen. Kann das gelingen?

Papst Franziskus nennt es ein „Drama“. Vielen Opfern fehlen bis heute die richtigen Worte, um zu beschreiben, was ihnen angetan wurde. Der Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und auch von Nonnen durch katholische Priester ist in seiner tatsächlichen Dimension bis heute nicht voll aufgeklärt.

Die Kirche geht von Land zu Land in unterschiedlicher Konsequenz gegen die Taten vor. Deutschland gehört schon zu den Vorreitern: Eine von der katholischen Kirche initiierte Studie ergab im Herbst 2018, dass zwischen 1946 und 2014 mindestens 1670 katholische Kleriker 3677 meist männliche Minderjährige in Deutschland missbraucht haben sollen. Doch diese Zahlen könnten nur die Spitze des Eisbergs sein.

Opfervertreter fordern Härte vom Papst persönlich

In anderen Ländern steht die Aufklärung noch ganz am Anfang. Auch deshalb zieht der Pontifex erstmals sichtbare Konsequenzen: Er hat die Spitzen der Bischofskonferenzen aus aller Welt in den Vatikan einberufen zu einer Konferenz, die es in der Form noch nie gab. Rund 190 Teilnehmer aus aller Welt werden von diesem Donnerstag bis Sonntag im Vatikan über den Missbrauch sprechen, den es seit Jahrzehnten auf allen Ebenen der katholischen Kirche gibt. Papst Franziskus, die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen und auch Ordensvertreter diskutieren, wie die Kirche das „Monster“ (Vatikansprecher Alessandro Gisotti) bekämpfen kann.

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Der Jahrzehntelange Missbrauch von Kindern und dessen Vertuschung haben die katholische Kirche in eine moralische Krise gestürzt, aus der sie aus Sicht von Opfervertretern nur herausfinden kann, wenn der Papst persönlich endlich Härte zeigt: gegenüber den Tätern und denjenigen, die die Täter geschützt haben. „Irgendwann ist die Geduld erschöpft“, gibt der deutsche Opfervertreter der Organisation Eckiger Tisch, Matthias Katsch, die Erwartungshaltung vor. Der Papst müsse jetzt liefern, fordern andere Opfervertreter.

US-Priester sollen über 1000 Kinder vergewaltigt haben

Dass der Papst Härte zeigen kann, wenn er muss, bewies er vor wenigen Tagen mit der Entlassung des emeritierten Erzbischofs von Washington, Theodore McCarrick, aus dem Priesterstand. Für katholische Verhältnisse eine brachiale Strafe. Zuvor war der Erzbischof in einer Untersuchung der Glaubenskongregation des sexuellen Fehlverhaltens im Umgang mit Minderjährigen und Erwachsenen für schuldig befunden worden.

McCarrick soll Minderjährige und Priesteranwärter missbraucht haben. Und er war nicht der Einzige in den USA. Dass mehr als 300 Priester sich über Jahrzehnte an mehr als 1000 Kindern und Jugendlichen vergangen haben sollen, hatte im Sommer des vergangenen Jahres allein die Staatsanwaltschaft des US-Staats Pennsylvania zutage gefördert.

Keine großen Reformschritt erwartet

Niemand geht davon aus, dass die Bischöfe am Sonntag bindende Beschlüsse fassen werden, die einen Kontinente übergreifenden Umgang mit Missbrauchsfällen regeln könnten. Es soll anlässlich der Konferenz immerhin Begegnungen mit Opfern geben, viel mehr ist dazu vorab nicht zu erfahren. Was also kann diese Konferenz überhaupt leisten?

Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, schraubt die Erwartungen zurück: „Ich befürchte, dass wir große Reformschritte nicht von einer solchen Tagung erwarten können“, erklärt Sternberg im Gespräch mit unserer Redaktion.

Keinen Konsens über Art und Weise der Aufarbeitung

Doch allein dass es dieses Treffen gibt, bewertet der Vertreter der 24 Millionen katholischen Laien positiv: „Niemand wird nach dieser Konferenz noch sagen können, dass ein Land oder eine Region nicht betroffen wäre.“ Sternberg erwartet, dass die Reformwilligen in der Kirche von nun an nicht mehr ausgegrenzt werden. Und er hofft, dass die nationalen Bischofskonferenzen gestärkt werden, damit ein einheitliches Vorgehen bei Missbrauchsskandalen möglich werde.

Selbst zwischen den deutschen Bistümern gab es zuletzt keinen Konsens über die Art und Weise der Aufarbeitung. Das bestätigt auch Sternberg. „Die Aufklärungsarbeit läuft in den deutschen Bistümern sehr unterschiedlich. Es gibt leider kein einheitliches Vorgehen“, kritisiert er.

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Massive Krise, aber Wille zu Reformen

Allerdings seien hierzulande nach Aufdeckung der Skandale „die Alarmglocken angegangen – auch angesichts des großen Vertrauensverlustes“. Die Erschütterung in Deutschland sei zu Recht sehr groß. Der ZdK-Präsident ist überzeugt, dass die katholische Kirche in Deutschland erkannt hat, dass etwas passieren muss.

„Es gibt den klaren Willen zu Reformen und zu Mechanismen, die einen weiteren Missbrauch verhindern“, lobt er, doch er sieht seine Kirche nach wie vor in einer massiven Krise: „Wir werden hart arbeiten müssen, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Das gilt nicht nur für Bischöfe und Priester, sondern auch für die Laien.“

Auch Fälle sexualisierter Gewalt in evangelischer Kirche

Während sich nun die leitenden katholischen Geistlichen aus aller Welt im Scheinwerferlicht des Vatikans dem eigenen Versagen stellen, sitzt seit Jahren auch die evangelische Kirche – unter deutlich geringerer öffentlicher Aufmerksamkeit – an der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in den eigenen Reihen. Auf evangelischer Seite sind in Deutschland bislang rund 600 Fälle sexualisierter Gewalt aus den vergangenen Jahrzehnten bekannt geworden. Auch hier könnte die Dunkelziffer deutlich höher liegen.

Das Ausmaß in beiden Kirchen ist schwer vergleichbar – es fängt schon bei der Betrachtung des Täterkreises an. Die katholische Missbrauchsstudie fokussierte sich allein auf den Klerus. Die Protestanten wissen aus ihrer Aufklärungsarbeit allerdings bereits, dass neben Pfarrern und Pastoren auch Diakone, Kirchenmusiker, Erzieher, Küster, Heimleiter und Ärzte übergriffig wurden.

Auch Protestanten blicken gespannt nach Rom

Der Schwerpunkt der Fälle lag dem heutigen Kenntnisstand zufolge zwischen 1950 und Ende der 70er-Jahre – und vor allem im diakonischen Bereich. Mit allem, was bis dahin bekannt war, hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im November einen „11-Punkte-Plan zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt“ verabschiedet und 1,3 Millionen Euro für dessen Umsetzung bewilligt. Zwei Studien, ein Beauftragtenrat und zentrale Meldestellen in den Mitgliedskirchen sollen die Aufarbeitung weiter voranbringen.

Obwohl in absoluten Zahlen betrachtet der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche weit schwerer wiegt als die Taten auf protestantischer Seite, sind auch EKD-Vertreter alarmiert. Den Vertrauensverlust in die Kirche allgemein, ganz gleich welcher Konfession, bekommen sie genauso zu spüren. Daher blicken auch die protestantischen Spitzenvertreter gespannt nach Rom.

Die Sorge wegen der Kirchenaustritte wächst

Die weltweiten Berichte über sexualisierte Gewalt in der Kirche haben uns erschüttert. Ganz gleich ob evangelisch oder katholisch, orthodox oder freikirchlich: Wo immer Handlungen passieren, die Leben zerstören, wird das mit Füßen getreten, wofür wir als Kirchen in der Nachfolge Jesu Christi stehen“, erklärt EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm gegenüber unserer Redaktion. In dieser Situation würden sich Menschen von der Kirche abwenden, beklagt der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

Und er benennt die Folgen: „Über deutlich erhöhte Austrittszahlen für das vergangene Jahr wurde schon berichtet. Genaue Zahlen werden wir im Juli vorlegen. Darin kommt eine schmerzhafte Vertrauenskrise zum Ausdruck.“ Er begrüße vor diesem Hintergrund ausdrücklich, „dass Papst Franziskus die intensiven Debatten der katholischen Kirche um sexualisierte Gewalt nun in einem Bischofstreffen zusammenführt, um daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen“.

Bedford-Strohm: „Präventionskonzepte und zielgenaue Aufarbeitung konsequent weiterentwickeln“

Für die evangelische Kirche sage er in aller Klarheit, so Bedford-Strohm: „Wir müssen ebenso wie alle anderen gesellschaftlichen Akteure unsere Präventionskonzepte und zielgenaue Aufarbeitung konsequent weiterentwickeln. Null-Toleranz gegenüber Tätern und Mitwissern. Dafür stehen wir ein und sprechen uns als EKD dafür aus, den Schutz vor sexualisierter Gewalt als gesamtgesellschaftliche Herausforderung zu begreifen.“ Nur auf diesem Weg könne verloren gegangenes Vertrauen wieder aufgebaut werden.

Ein historischer Moment oder am Ende reine Lippenbekenntnisse? Franziskus’ Ansprache am Sonntag könnte Antworten liefern. Die Opfervertreter wollen aus dem Vatikan jedenfalls keine Schuldbekenntnisse mehr hören, sondern Taten sehen. Der deutsche Opfervertreter Katsch glaubt, dass mehr als Ankündigungen herauskomme müsse. Viele, die als Kinder selbst einen Missbrauch erleiden mussten, haben sich für diese besonderen Tage auf den Weg nach Rom gemacht – und zeigen sich der Öffentlichkeit.