Berlin. Österreichs Nationalratspräsident warnt Deutschland wegen der Pkw-Maut vor Wettbewerbsverzerrung – und ruft Europa zum Widerstand auf.

Er hat eine ähnliche Aufgabe wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) – und er spricht Klartext: Der österreichische Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka von der konservativen ÖVP sieht für die Zeit nach der Europawahl im Mai eine Entwicklung voraus, die den Deutschen nicht gefallen könnte.

Österreich hat für ein halbes Jahr die EU geführt und ist dabei ohne großen Erfolg geblieben. In der Migrationspolitik – von Wien ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt – gibt es kaum Fortschritte. Hat der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz den Mund zu voll genommen, Herr Sobotka?

Wolfgang Sobotka: Nein. Unsere Ratspräsidentschaft war als Arbeitspräsidentschaft angelegt – und als solche durchaus ein Erfolg. In der Flüchtlingspolitik drehen sich die Europäer schon lange im Kreis, ohne viel zustande zu bringen. Wir haben Flüchtlingsrouten geschlossen. Aber dass uns kurzfristig eine Trendwende gelingt, war nicht zu erwarten.

An welche Trendwende denken Sie?

Sobotka: Wir müssen an den Wurzeln ansetzen und Fluchtursachen gerade in Afrika entschlossen bekämpfen. Außerdem müssen die europäischen Außengrenzen besser gesichert werden. Dazu muss die Grenzschutzagentur Frontex ein klares Mandat bekommen.

Sollte sich Europa – wie Ihr Amtskollege Wolfgang Schäuble fordert – vom Einstimmigkeitsprinzip verabschieden, damit der Zögerlichste nicht alles blockieren kann?

Sobotka: Das Einstimmigkeitsprinzip bringt die Europäische Union nicht voran. Wir sollten zu qualifizierten Mehrheiten übergehen – etwa zu Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheiten. Diese Notwendigkeit sehe ich vor allem in der gemeinsamen Außenpolitik.

Seit der Amtszeit von Walter Hallstein vor mehr als einem halben Jahrhundert könnte demnächst wieder ein Deutscher an der Spitze der EU stehen. Freuen Sie sich auf einen Kommissionspräsidenten Manfred Weber?

Sobotka: Ich kenne Manfred Weber als großen Europäer – und traue ihm zu, die EU-Kommission zu führen. Er ist ein Mann, der eine klare Haltung hat und der verbinden kann. Ich würde mich freuen, wenn Manfred Weber der Nachfolger von Jean-Claude Juncker wird. Über die Besetzung solcher Positionen denkt man aber erst nach, wenn die Wahl entschieden ist.

Ist es zwingend, dass der nächste Kommissionspräsident aus dem Kreis der Spitzenkandidaten für die Europawahl kommt?

Sobotka: Das ist die Usance und die Idee des Spitzenkandidatenmodells. Die Entscheidung hängt aber davon ab, wie sich die Parteien positionieren. Es geht nicht nur um den Kommissionspräsidenten, sondern um ein Gesamtpaket, das auch den Ratspräsidenten, den Präsidenten des Europäischen Parlaments und den Außenbeauftragten einschließt.

Ein Wahlsieger Weber würde also nicht unbedingt die EU-Kommission führen?

Sobotka: Niemand sollte sich an fixen Vorstellungen über den neuen Kommissionspräsidenten orientieren. Es ist eine Wahl zum Europäischen Parlament – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Letztlich wird es auch von den Mehrheitsverhältnissen im Europaparlament abhängen, wer nächster Kommissionspräsident wird. Die EVP wird als stimmenstärkste Fraktion den legitimen Anspruch stellen, Manfred Weber zum Kommissionspräsidenten zu wählen.

Sie regieren in Österreich mit der FPÖ, die im Europaparlament der Fraktion der Rechtspopulisten und Rechtsextremisten angehört. Fühlen Sie sich wohl in dieser Gesellschaft?

Sobotka: In Österreich läuft die parlamentarische Zusammenarbeit zwischen ÖVP und FPÖ sehr gut. Die FPÖ ist eine rechte Partei, die auch polarisiert – das ist nicht neu. Aber die gemeinsame Arbeit ist sachorientiert und tut dem Land wirklich gut.

Der amtierende Kommissionschef Juncker hat die FPÖ aufgefordert, aus der Rechtsaußen-Fraktion im Europaparlament auszutreten. Können Sie das gar nicht nachvollziehen?

Sobotka: Die europäischen Parteifamilien vereinigen allgemein ein breites Spektrum. Ratschläge aus Brüssel sind da nicht besonders hilfreich. Man sollte die Parlamentarier daran messen, wie sie tatsächlich agieren.

Österreich sieht sich gerne als Brückenbauer, nach Osten wie nach Westen. Ist das – die Gaspipeline, die in der Ostsee von Russland nach Deutschland führen soll – im europäischen Interesse?

Sobotka: Nord Stream 2 ist auf alle Fälle im europäischen Interesse. Wenn man aus der Atomkraft und aus der Kohle aussteigt, braucht man alternative Kapazitäten. Auch Länder, die stark auf regenerative Energien setzen, brauchen Sicherheiten. Der vergangene Sommer hat gezeigt, dass Wind-, Wasser- und Sonnenenergie bei Weitem nicht ausreichen. Da ist es ganz gut, wenn man Ersatzkraftwerke anwerfen kann. Außerdem stabilisieren Wirtschaftskontakte zu Russland die internationalen Beziehungen.

Die Amerikaner warnen Europa, sich in Anhängigkeit von Russland zu begeben.

Sobotka: Dahinter dürfte eine wirtschaftliche Überlegung stecken. Den USA geht es darum, eigenes Fracking-Gas nach Europa zu bringen. Das ist aber mit Sicherheit kein ökologischer Ansatz. In Österreich fehlt dafür jede Akzeptanz.

Die USA drohen mit Strafzöllen auf Autos – was vor allem die deutsche Autoindustrie treffen würde. Unterstützt Österreich die Haltung der Bundesregierung?

Sobotka: Wir sind grundsätzlich gegen Protektionismus und für Multilateralismus. Und wir werden alles daran setzen, amerikanische Importzölle auf Autos zu verhindern – im Interesse der Europäischen Union. Präsident Trump sollte sich daran erinnern, wo das größte VW-Werk steht: in Chattanooga im US-Bundesstaat Tennessee. Die EU-Staaten sind gut beraten, eine klare gemeinsame Haltung im Handelsstreit einzunehmen. Und sie verfügen über Druckmittel: Es ist ja nicht zwingend, dass alle Geschäfte in US-Dollar abgewickelt werden müssen.

Sobotka: Wir meinen, dass eine reine Ausländer-Maut, wie Deutschland sie einführen will, nicht dem europäischen Geist entspricht.

Was machen Sie, wenn Sie das Verfahren verlieren?

Sobotka: Falls die deutsche Pkw-Maut vor Gericht Bestand hat, muss sich Europa insgesamt überlegen, welchen Weg es geht. Dann wird es sicherlich Gegenmaßnahmen geben.

Und zwar welche?

Sobotka: Die Einführung einer Pkw-Maut für Ausländer in Deutschland wird einen Paradigmenwechsel einleiten. Ein Mehr an Europa wird in den verschiedensten Bereichen schwieriger werden. Wir brauchen in der EU möglichst große Übereinstimmung – und keine Wettbewerbsverzerrung zu Lasten der unmittelbaren Nachbarn. Die Herausforderungen der Europäer liegen auf anderen Kontinenten.