Berlin. Ein renommierter Jurist findet, dass Frauen in deutschen Parlamenten überrepräsentiert seien – mit einer überraschenden Begründung.

Juristische Zweifel an einer Frauenquote in den Parlamenten gibt es seit Langem. Jetzt stellt der Rechtswissenschaftler Martin Morlok auch die politische Begründung solcher Initiativen infrage. Sein verblüffender Befund: Frauen seien im Bundestag nicht unter-, sondern „überrepräsentiert“, wie er unserer Redaktion sagte.

Für ihn greift es zu kurz, nach Parität zu rufen, weil der Anteil des weiblichen Geschlechts in der Bevölkerung höher als im Bundestag sei. Die Kandidaten würden von den Parteien aufgestellt.

„Es sind einfach zu wenige Frauen in Parteien“, argumentiert Morlok, der sich an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf gerade als Parteienrechtler einen Namen gemacht hat.

Das politische Momentum gehört den Quoten-Fans

Man müsse nur dafür sorgen, dass es keine rechtlichen Hindernisse für die Frauen gebe. „Die Gleichberechtigung heißt nicht Ergebnisgleichheit, sondern Chancengleichheit“, meint er. Die sei in den Parteien „im Übermaß“ gegeben. „Eine Frau, die antritt, hat bessere Möglichkeiten als ein Mann, tatsächlich Kandidat zu werden.“

Das weisen er und der Wissenschaftler Alexander Hobusch an vier der sechs Fraktionen im Bundestag nach. 39,8 Prozent der Grünen-Mitglieder sind weiblich – und 58,2 Prozent ihrer Bundestagsabgeordneten. Eine Differenz von 18,4 Prozent. Ähnlich hoch ist sie bei den Linken.

Martin Morlock, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Martin Morlock, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. © picture alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Martin Schutt

In der SPD beträgt der Unterschied 9,3 Prozent, in der FDP 1,9 Prozent. Nur die AfD und die CDU stellen sechs Prozent weniger Parlamentarierinnen auf, als es ihrem Frauenanteil entspricht.

Anteil Frauen im Bundestag entspricht nicht dem der Wahlberechtigten

Die Befürworter der Quote geben zu bedenken, dass Frauen 51,5 Prozent der Wahlberechtigten, aber nur 30,9 der Bundestagsabgeordneten ausmachen. Mehr noch: „Der Anteil von Frauen im Deutschen Bundestag ist so niedrig wie seit 20 Jahren nicht“, erinnert Justizministerin Katarina Barley (SPD) im Gespräch mit unserer Redaktion.

Der Argumentation liege „ein völlig verkehrtes Repräsentationsverständnis zugrunde“, kritisiert Morlok. Wenn man das ernst meine, „müsste man auch sagen, jeder Fünfte hat Migrationshintergrund, also müsste jeder Fünfte im Bundestag einen Migrationshintergrund haben“.

Brandenburg hat ein Gesetz, Berlin den Frauentag

Seit Monaten trommeln Politikerinnen für eine Gleichbeteiligung, für „Parité“-Gesetze. Das Momentum gehört ihnen. Im November 2018 jährte sich zum hundertsten Mal die Einführung des Frauenwahlrechts. Zuletzt erklärte das Land Berlin den „Frauentag“ am 8. März zum Feiertag.

Am vergangenen Donnerstag beschloss Brandenburg als erstes Bundesland ein Gesetz, nach dem alle Parteien für die Landtagswahl gleich viele Frauen und Männer als Kandidaten aufstellen müssen.

Frauen und Männer sollen dort abwechselnd auf den Wahllisten der Parteien aufgeführt werden. Auch in anderen Bundesländern werden Parité-Gesetze debattiert, im benachbarten Berlin oder in Bayern. In Niedersachsen macht sich Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) für die Forderung stark.

Reform des Wahlrechts ist überfällig

Auf Bundesebene ist eine Reform des Wahlrechts überfällig. Ihr Ziel müsse laut Barley sein, „eine gerechte Beteiligung beider Geschlechter im Parlament“. Längst konkurrieren die großen Parteien um die Vorreiter-Rolle.

Barley konnte sich jedenfalls einen Seitenhieb auf die neue CDU-Chefin nicht verkneifen: „Ich erwarte, dass die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer ihren Worten Taten folgen lässt.“

Barley lobt Entscheidung der Brandenburger

„Parität scheint mir logisch“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) der „Zeit“. Obwohl auch Frauenministerin Franziska Giffey (SPD) der Meinung ist, dass sich von alleine nichts ändern werde, wird sie kein Gesetz einringen.

Sie verweist auf das Parlament. Es liegt am Bundestag, verfassungsrechtliche Einwände zu überwinden. Eine gesetzliche Quotierung ist laut Morlok unvereinbar mit den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit der Wahl, zudem mit der Parteienfreiheit und Chancengleichheit der Parteien sowie mit dem Diskriminierungsverbot.

Während Barley die Entscheidung der Brandenburger als „großen Schritt“ lobt, ist Morlok „fest überzeugt davon, dass das Gesetz verfassungswidrig ist“.

Mitgliederstruktur ist ein Problem

Das Problem liegt für ihn in der Mitgliederstruktur der Parteien. Männer sind in der Überzahl, geben den Ton, drängen auf allen Positionen mehr als Frauen nach vorne. „Das ist nicht unbedingt eine positive Eigenschaft. Sie drängen sich auch auf Positionen, die sie hinterher nicht ausfüllen können“, so Morlok.

Das Problem sei auch, dass Frauen nicht gern in den Parteien arbeiteten. Die Mitarbeit auf unterer Ebene sei „nicht vergnügungssteuerpflichtig, das ist abends, mühsam, da bewegt man nicht die Welt“. Die Frauen winken ab. „Das ist eine Selbstbeschränkung von Frauen, die kann man positiv oder negativ sehen.“

Sie wollen die Hälfte, aber nicht 50 Jahre darauf warten

Die Frage ist, wie Parteien für weibliche Mitglieder attraktiver werden können; ob sie deren Anliegen ansprechen, Karrieren fördern, nicht zuletzt, wie sie Familie und Politik miteinander vereinbaren.

Für Morlok ist es eine Frage „der inneren Ordnung der Parteien“, wie Frauen sich organisieren, stärker in der Politik mitmischen und kandidieren – keine Frage des Wahlrechts. Für Frauen zählt das Ergebnis. Die große alte Dame der CDU, Rita Süssmuth, sagt, „wir wollen die Hälfte. Und wir wollen nicht wieder 50 Jahre warten.“