Berlin. Der Erste Weltkrieg war ein sinnloses Abschlachten mit Millionen Toten. Das Gedenken daran war würdig – aber es reicht noch nicht.

Die Welt feiert das Ende des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren, und plötzlich ist die Erinnerung allgegenwärtig. Die an den Hass, an die bizarre Kriegsbegeisterung und an das sinnlose Abschlachten mit weltweit 15 Millionen Toten. Es ist dabei erschreckend, wie wenig deutsche Jugendliche heute über den Ersten Weltkrieg und seine Entstehung wissen. Aber es ist gleichzeitig beruhigend zu sehen, wie sehr sie sich dafür interessieren, wenn sie damit konfrontiert werden.

Für Franzosen ist der Umgang mit der Erinnerung sicher schmerzhaft, aber doch einfacher als bei uns. Denn hier ist das Gedenken an die eigenen Gefallenen und die vielen zivilen Opfer nie zu trennen von der Schuld, die Deutschland in zwei Weltkriegen auf sich geladen hat. Das macht das Erinnern in Deutschland komplizierter – und dennoch fehlt Raum dafür. Es darf nicht sein, dass das Grauen des Krieges und die Erinnerung an die Toten nur bei besonderen Anlässen oder Jubiläen wie jetzt zum Jahrestag des Waffenstillstandsabkommens in das Bewusstsein dringen.

Eine Erinnerungskultur zu entwickeln, die in Zeiten von Instagram und Snapchat auch die Jugend erreicht, ist eine gesellschaftliche Aufgabe mit großer Aktualität. Sie darf nicht den ohnehin überforderten Schulen überlassen werden.

Dabei sind prägende Erfahrungen viel wichtiger als Frontalunterricht. Das Gespräch mit Großeltern und Urgroßeltern über die Erfahrungen der eigenen Familie. Der Gang über endlose Gräberfelder mit den Namen von Gefallenen, die oft nicht einmal zwanzig Jahre alt waren. Solche Eindrücke gehen tiefer und führen zu den entscheidenden Fragen: Warum? Und: Wie können wir verhindern, dass sich Geschichte doch wiederholt?

Politische Entwicklungen geben Anlass zur Sorge

Wo die Erinnerung fehlt, ist Platz für Geschichtsvergessenheit. Daher ist es eher beunruhigend als eine protokollarische Petitesse, dass der US-Präsident eine Ehrung gefallener US-Soldaten ausfallen ließ – weil es regnete.

Es ist ein großes Privileg der jüngeren Generationen, nur Frieden erlebt zu haben. Niemand sollte unnötig Ängste schüren, aber wahr ist leider auch: Die Welt ist wieder ein unsicherer Ort geworden. Der Überfall auf die Ukraine. Ein Krieg in Syrien, der immer noch zum Flächenbrand werden kann. Und in Korea schien ein Konflikt mit atomaren Waffen vor nicht allzu langer Zeit erschreckend nah.

Dazu kommen politische Entwicklungen, die zwar nicht vergleichbar sind mit der Kriegseuphorie 1914. Aber genug Anlass zur Sorge bieten sie doch. Die nationalistischen Kräfte in Europa sind längst entfesselt und konkurrieren brutal mit der Idee des vereinten, friedlichen Europas, die über Jahrzehnte so unangreifbar schien.

Es ist längst nicht ausgemacht, dass Europa es schafft, diese Fliehkräfte zu bändigen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Bundeskanzlerin stemmen sich mit Kraft dagegen. Ihre Begegnung am Ort des Kriegsendes in Compiègne war ehrlich und eindrucksvoll. Es braucht solche Symbole. Große Europäer – wie Helmut Kohl und François Mitterrand mit ihrem Händehalten auf den Gräbern von Douaumont – haben es vorgemacht. Vom Mut Adenauers und de Gaulles 1958 ganz zu schweigen. Nicht zu vergessen auch Willy Brandt, dessen Ostpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg große Friedenspolitik war. Aber wird all das reichen? Schon die Europawahl wird Aufschluss darüber geben, welche Richtung Europa nehmen wird. Es ist noch lange nicht selbstverständlich, dass es in Richtung Einigkeit und eines noch stabileren Friedens geht.