Arnsberg/Berlin. Gesundheitsminister Spahn will Wartezeit auf Arzttermine verkürzen. In der Praxis dürfte das schwer durchzusetzen sein. Ein Ortsbesuch.

Die Eingangstür ist offen und einige Patienten sitzen schon im Wartezimmer. Um Punkt acht Uhr betritt Tobias Borys seine Praxis. Die Arzttasche stellt er hinten ins Büro, trinkt in der Küche noch schnell einen Schluck koffeinfreien Kaffee. „Wo geht’s denn los?“, fragt er seine Mitarbeiterin. „In der zwei!“ Borys schaut auf die Patientenakte und öffnet schwungvoll die Tür zum Behandlungsraum. „Guten Tag! Wie geht’s denn?“

Tobias Borys ist Urologe. Seine Praxis liegt in der Mitte von Arnsberg im Sauerland, aber sie könnte überall liegen. Arnsberg, 75.000 Einwohner, das ist ziemlicher Durchschnitt in Deutschland. Blase, Nieren, Prostata – das sind die Organe, mit denen sich Borys am häufigsten befasst. Ein überschaubares Gebiet, wie er findet. Seit fast zehn Jahren hat der 46-Jährige seine eigene Praxis. Er mag seinen Job.

Über die Gesundheitspolitik in Berlin aber schüttelt er den Kopf: „Unser Gesundheitssystem ist im Eimer“, sagt Borys. Seit Jahren sei klar, dass es zu wenige Ärzte gebe. Aber es ändere sich nichts. „Es liegt nicht an den Ärzten, dass das Gesundheitssystem nicht funktioniert“, ist er überzeugt. „Die Politik benutzt die Ärzte als Sündenbock, um von eigenen jahrzehntelangen Versäumnissen abzulenken.“

Privatpatienten sollen nicht mehr besser behandelt werden

Jüngster Anlass für seine Empörung ist das Gesetz, das Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Mittwoch durchs Bundeskabinett gebracht hat und das nun vom Bundestag beraten werden soll. Spahn verspricht, damit etwas gegen die „Ungleichbehandlung von gesetzlichen und privaten Patienten“ zu tun, die es „zu oft“ gebe. Schnellere Termine, kürzere Wartezeiten und besseren Service verspricht der Minister den Kassenpatienten unter anderem. Die Ärzte sollen unter bestimmten Bedingungen mehr Honorar bekommen. 600 Millionen Euro will Spahn die Kassen dafür ausgebenlassen. Zum Vergleich: Insgesamt bekommen die Praxisärzte pro Jahr rund 42 Milliarden Euro.

Die Wartezeiten in Arztpraxen sollen verkürzt werden.
Die Wartezeiten in Arztpraxen sollen verkürzt werden. © Andreas Buck | Andreas Buck

Konkret ist geplant, dass Ärzte in Zukunft mindestens 25 Wochenstunden als Sprechzeiten anbieten müssen – bisher waren es 20 Stunden. Bestimmte Gruppen wie Augenärzte, Gynäkologen und Hals-Nasen-Ohren-Ärzte müssen zusätzlich mindestens fünf Stunden pro Woche eine „offene Sprechstunde“ abhalten, in die Patienten ganz ohne Termin kommen können. Im Gegenzug können die Mediziner außerhalb ihres Honorar-Budgets Zuschläge bekommen, wenn sie neue Patienten behandeln. Hausärzte sollen fünf Euro pro Patient extra bekommen, wenn sie spontan einen Facharzttermin vermitteln.

30 Stunden Sprechzeit vor Woche

In Arnsberg ist der Zeitplan von Urologe Borys schon zweieinhalb Stunden nach Öffnung der Praxis aus den Fugen geraten. „Wir hängen jetzt eine halbe Stunde“, sagt Borys. Zehn Patienten hat er gesehen und zwei Blasenspiegelungen vorgenommen, als ihm ein älterer Herr vor dem Wartezimmer zuruft: „Herr Doktor! Ich habe Blut im Urin, ich bin ein Notfall!“ Borys beruhigt ihn und lässt schnell den Katheter wechseln. Einen Termin dafür hätte der Patient eigentlich erst in der nächsten Woche gehabt.

Den Plan des Gesundheitsministers, dass Ärzte künftig mindestens 25 Stunden Sprechzeit pro Woche anbieten müssen, hält Borys für „realitätsfremd“. Das sei „wohl eher Augenwischerei für die Bevölkerung“. Er kenne keinen Arzt, der weniger arbeite. Er selbst biete 30 Stunden Sprechzeit pro Woche an, dazu kämen Hausbesuche und Verwaltungsarbeit. „Das summiert sich auf eine Arbeitszeit von mindestens 50 Stunden in der Woche“, sagt der Urologe. „Eine Mittagspause hatte ich in diesem Jahr höchstens zehn Mal.“

Auch Minister Spahn kann nicht sagen, wie viele Ärzte derzeit nur 20 Stunden für ihre Patienten da sind und damit ihren Arztsitz gar nicht ganz ausfüllen. Die Erhöhung der Zahl ist also eher ein Schuss ins Blaue. Unklar ist deshalb auch, wie viel zusätzliche Sprechzeit durch das Gesetz ermöglicht wird. Er könne nicht versprechen, dass mit seinem Inkrafttreten „gleich das Paradies“ da sei, gibt der CDU-Politiker zu. Auch dass die offenen Sprechstunden mit möglicherweise übervollen Wartezimmern den Praxisalltag durcheinanderwirbeln können, ahnt er. Im Gesetz steht es dennoch.

Lauterbach: Kassenpatienten werden attraktiver für Ärzte

Große Hoffnung setzt Spahn auf das zusätzliche Honorar, das Ärzte sich verdienen können, wenn sie neue Patienten aufnehmen. Mehr Geld für mehr Leistung, das geht für Spahn in Ordnung. Er wolle „gute Versorgung mit zufriedenen Ärzten“, sagt er. „Kassenpatienten werden künftig finanziell attraktiver für Ärzte“, sagt auch SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach.

Gerade wenn sie über die Terminservicestellen vermittelt würden, könnten Fachärzte mit den gesetzlich Versicherten fast so viel verdienen wie mit Privatpatienten. Seit Jahren fordert Lauterbach eine Angleichung der beiden Honorarsysteme. Das neue Gesetz lasse dies wahrscheinlicher werden, glaubt er. Die hohe Summe, die diese Angleichung koste und die ein Einheitshonorar bisher verhindert habe, werde geringer.

„Ich unterscheide nicht zwischen Kassenpatienten und Privatversicherten“, sagt Urologe Borys. Beide Gruppen bekämen bei ihm gleich schnell einen Termin, säßen gleich lange im Wartezimmer und bekämen die gleiche Behandlung: „Den einzigen Unterschied gibt es beim Honorar.“ Bei Privatpatienten bekomme er jede einzelne Untersuchung und Behandlung bezahlt. Das könne sich auf bis zu 150 Euro pro Patient summieren.

Pro Patient maximal 15 Minuten Zeit

Für Kassenpatienten habe er ein festes Budget von circa 30 Euro pro Quartal. Bis zu dieser Summe werde jede Behandlung voll bezahlt. „Alles, was ich darüber hinaus mache, wird nur noch mit einem Bruchteil bezahlt“, sagt Borys. Dieser Teil liege aktuell bei etwa 18 Prozent der eigentlich vorgesehenen Vergütung.

Er wolle nicht über sein Einkommen klagen, sagt der Urologe: „Ich komme gut über die Runden, aber ich arbeite auch viel dafür.“ Um die monatlichen Fixkosten der Praxis bezahlen zu können, brauche er eine bestimmte Zahl an Patienten. „Bei etwa 30 Patienten pro Tag kann ich die Praxis wirtschaftlich betreiben“, sagt Borys. „Das bedeutet, dass ich für jeden Patienten maximal 15 Minuten Zeit habe.“ Mehr Patienten bedeuteten weniger Zeit pro Patient. Wie da noch Zeit für Sprechzeiten ohne Termin bleiben sollen, weiß er nicht.

Es ist Mittwochnachmittag, 14 Uhr. Der letzte Patient hat die Praxis verlassen – eineinhalb Stunden nach dem letzten offiziellen Termin, der für 12.30 Uhr vergeben war. Borys beißt endlich in sein Pausenbrot. Die Tasche für die Hausbesuche in der Umgebung von Arnsberg ist gepackt. Morgen früh um acht wird er die Praxis wieder betreten.